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# taz.de -- Ausgehen und rumstehen von Paula Marie Kehl: Ein VIP ist jemand, de…
Meine Augen brennen, tränen und hin und wieder platzt ein Äderchen in
meinem rechten Auge. Das passiert immer dann, wenn ich zu lange am Laptop
sitze. Nach einer Arbeitswoche mit viel Tippen und Klicken sehne ich mich
am Wochenende nach dem Analogen.
Am Samstagmorgen übt mein neunjähriger Cousin F. Englischvokabeln. Es sind
Vokabeln wie read und ride und book. Er buchstabiert langsam und rät
gelegentlich: R-e-e-d und b-u-k. Wie an einigen vergangenen Wochenenden in
meiner Zeit in Berlin unternehme ich auch an diesem etwas mit meinem
Cousin: Wir wollen zwei Leinwände kaufen, und dafür fahren wir zur
Künstlerbedarfsfiliale Bösner, mein analoges Paradies. Auf dem Weg dahin
erkläre ich F. meine spontan überlegte Eselsbrücke für die Schreibweise von
Book: Ich beschreibe einen Menschen mit großen runden Brillengläsern, der
ein Buch liest. Die zwei runden Gläser stehen für die oo im englischen
Wort. Seine Begeisterung über meinen Einfall hält sich in Grenzen.
Bei Bösner kaufen wir fünf Leinwände, einen Tipp-Ex und zwei kleine
Radiergummis, die aussehen wie eine Zahnbürste und Zahnpasta. Seine
Begeisterung für diese Radierer kann ich verstehen. Beim Rausgehen entdeckt
F. einen Maoamkracher- Automaten, und wir werfen noch 50 Cent in das Gerät,
um dafür vier Kaubonbons zu erhalten.
Am Abend bin ich zum Geburtstag von M. eingeladen. Sie ist eine Freundin
aus der Zeit der Mittelstufe. Fünf Jahre haben wir uns nicht mehr gesehen
und plötzlich sieht man sich wieder, und es ist nicht wie früher, aber auch
nicht anders, und vor allem ist es schön. Es ist auch einer dieser Momente,
in denen ich erneut feststelle, dass soziale Netzwerke falsche
Vorstellungen und Projektionen schaffen. In den Jahren ohne direkten
Kontakt ist Instagram die letzte unkonkrete Verbindung, die bleibt. Die
Einblicke in das Leben des anderen beschränken sich auf Posts und
Bildunterschriften und lassen eine undefinierbare
Persönlichkeitsveränderung vermuten. In welchem Ausmaß, bleibt offen, bis
man die Person trifft und merkt, dass der unverwechselbare Humor und die
herzliche Gastfreundschaft geblieben sind.
Mit der U-Bahn geht es zu einem Club, den ich nicht kenne. Er erinnert mich
mit seiner Musik und Einrichtung an einen Club, in den ich mit 16 Jahren
und mit Muttizettel gegangen bin. Damals konnte man den Eintritt erwürfeln,
hier ist der Preis fest und zu teuer.
Der DJ mit seiner lila getönten Brille und seiner Backgroundcrew lässt mich
in seiner eigenen Performance irgendwo zwischen irritiert und seltsam
fasziniert zurück. Noch mehr aber wundere ich mich über den VIP-Bereich.
Ich frage M., ob das die Bekanntheiten Berlins sind auf der vom Rest
abgetrennten Fläche, an deren Treppe ein Security-Mann steht und die
VIP-Bändchen an den Handgelenken kontrolliert. Außer einer Erhöhung von
zwei Stufen und ein paar Sofas kann ich den Unterschied zu dem Bereich, in
dem wir uns bewegen, nicht erkennen. Liegt vielleicht an der Entfernung.
Entgegen meiner Erwartung von Promis und Influencerinnen sind es vor allem
Leute die dafür „blechen“, erklärt mir M., die also mehr zahlen, um sich …
einem Bereich aufhalten zu können, der gut 40 Zentimeter höher liegt als
der Rest des Raums.
Ich mag es, mich gelegentlich in ungewohnten Kontexten zu bewegen. Sie
erinnern mich zuverlässig daran, dass neben der gewohnten Blase, in der ich
mich täglich bewege, immer ungezählte andere existieren. Auch wenn es mich
hin und wieder mit Irritation oder gar Unverständnis zurücklässt.
24 Jan 2023
## AUTOREN
Paula Marie Kehl
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