# taz.de -- Harald Welzer über Zukunft: Die Zukunft von gestern | |
> Weder Politik noch Wissenschaft, Philosophie oder Ökonomie haben etwas | |
> auf Tasche, was man „Zukunft für das 21. Jahrhundert“ nennen könnte. | |
> Dabei gibt es eine: Sie heißt Versöhnung. | |
Von [1][HARALD WELZER] | |
Wer wissen möchte, was die Zukunft war, aus der dann unsere Gegenwart | |
wurde, muss hobby lesen. hobby – das Magazin für Technik erschien von 1953 | |
bis 1991 und bot Berichte über die allerneuesten technischen Entwicklungen | |
und über Techno-Utopien, die gerade dabei waren, in den Labors Gestalt | |
anzunehmen. Dazu Autotests und Bastelanleitungen für Hauszelte, Faltboote | |
oder häusliche Fotolabore. Kurz: hobby war die komplette Nachkriegskultur | |
minus Mode, Wirtschaft, Politik und Feuilleton. Und das Frappierende ist: | |
Alles, was die Innovationshansel von heute als disruptiv ausrufen, war vor | |
sechzig Jahren schon da. Nehmen wir, nur zum Beispiel, Heft 4 vom April | |
1960. Dort findet sich ein Bericht über jene Prototypen fliegender Autos, | |
von denen Doro Bär heute noch träumt, dazu der Luftkissenschwebebus für 40 | |
Passagiere mit bis zu 800 km/h Höchstgeschwindigkeit – so wie der Hyperloop | |
von Elon Musk, dieser trüben Tasse. Moskau baut den höchsten Turm der Welt, | |
1959, heute huldigen Scheichs und Emire derselben originellen Idee. Cool | |
auch der Bau des Tunnels unter dem Mont Blanc, zwölf Kilometer lang, vier | |
Jahre Bauzeit. Und, für heutige Leserinnen und Leser besonders instruktiv, | |
ein Artikel über Zementgewinnung aus Korallen: der Schwimmbagger »Coral« | |
schaffte es, pro Stunde 800 Tonnen Korallen vor der Küste Australiens | |
abzubaggern, um sie an Land in Häuser, Brücken und Fabrikhallen zu | |
verwandeln. Man habe, so endet der Bericht, es hier »zum ersten Mal | |
verstanden, einen winzigen Bruchteil der Schätze nutzbar zu machen, die das | |
Meer für den Menschen noch bereithält«. | |
Am selben Tag, an dem ich das lese, wird unserem auf der Klimakonferenz in | |
Ägypten weilenden Kanzler (einer von 45.000 Teilnehmenden, die dahin | |
geflogen sind, um gegen die Erderhitzung zu kämpfen) vorgeworfen, er | |
fördere die Erschließung eines Gasfelds vor der Küste Senegals. So, als sei | |
immer noch 1960. Und Stuttgart 21, der BER von 2020, die Autofabrik in | |
Brandenburg von 2022 – in Wahrheit alles 1960, nix passiert im visionären | |
Haushalt. Ja, aber der Kanzler muss das doch, heißt es, weil Deutschland | |
erstmal noch ordentlich die verborgenen Schätze des Meeres einkaufen und | |
verbrennen muss, damit dann bald die Energiewende klappt. Auch wenn die | |
letzten acht Jahre die heißesten ever waren: muss alles weitergehen. Muss | |
doch. Tatsächlich ist die Zukunft nicht weitergegangen, sondern, wie schon | |
die zufälligen Beispiele aus nur einem einzigen hobby-Heft zeigen, 1960 | |
einfach stehen geblieben. Der Grund: Diese Zukunft ist tatsächlich | |
eingetreten, genau so fossil unbegrenzt und unmöglichkeitslos, wie sie dort | |
entworfen wurde. Dieser Fortschritt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts | |
hat ja den Bewohnerinnen und Bewohnern der westlichen | |
Nachkriegsgesellschaften mithilfe billiger Energie und Rohstoffe, williger | |
Ingenieure und Techniker und begeisterter Konsumentinnen und Konsumenten | |
jene paradiesischen Lebensverhältnisse beschert, an denen sie trotz aller | |
Klimakonferenzen und Klimaziele so fest kleben wie die selbsternannte | |
»Letzte Generation« auf dem Asphalt. Das, was der Schweizer Historiker | |
Christian Pfister das »50er-Jahre-Syndrom« nennt, hat zu jener immer noch | |
dynamischen Steigerung von Rohstoff- und Energieverbrauch, von Land- und | |
Gewässernutzung, von Müll- und Emissionsmengen geführt, wie sie bis heute | |
propagiert wird. Die mit diesem Syndrom verknüpften Erhöhungen von | |
Wohlstand und Lebenssicherheit haben nach dem Mauerfall ihre Ausbreitung | |
über den ganzen Planeten geschafft. Und die mentalen Infrastrukturen, die | |
in hobby angelegt werden, sind immer noch, nun aber weltweit, in Funktion. | |
Deshalb wollen sich auch alle die Zukunft genauso vorstellen wie jetzt, nur | |
ohne CO2. | |
Das, liebe Kinder, ist natürlich die erbärmlichste Zukunftsvision, die die | |
Moderne bislang hervorgebracht hat. Und gerade ihre erschütternde | |
Armseligkeit bietet den Angebern vom Typ Bezos, Musk oder Thiel ihre | |
übergroße Chance. In jeder anderen Epoche hätte man deren unüberbietbare | |
Fantasielosigkeit sofort erkannt. Was soll man denn auf dem Mars, wenn man | |
schon auf dem Mond war und eingesehen hat, dass da nix ist, was mit | |
irgendetwas auf der Erde mithalten könnte? Aber die Zukunft von gestern ist | |
eben die Einzige, die übrig geblieben ist. Sie klemmt in einer Zange aus | |
dem übergroßen Erfolg der Hyperkonsum- und Wachstumswirtschaft auf der | |
einen und den ökologischen und klimatologischen Desastern auf der anderen | |
Seite. Das führt zu einem, psychoanalytisch formuliert, gesellschaftlichen | |
Unbewussten, das dazu treibt, immer intensiver mit dem weiterzumachen, was | |
unausweichlich in die Katastrophe treibt. Die Zukunft von heute ist ja nur | |
noch eine Dystopie, da will man nicht hin, auf keinen Fall. Also bleibt nur | |
die von gestern. | |
## Eine Zukunft des Humanen | |
Weil aber »der Planet« in Gestalt seines Klimasystems nunmehr | |
meteorologisch zurückschlägt und größere Landflächen unwirtlich macht und | |
dazu allerlei Extremwetterereignisse veranstaltet, die teuer sind und | |
äußerst nachhaltige Folgen zeitigen, greifen die unerwünschten Resultate | |
der durch die Zukunft von gestern geprägten »imperialen Lebensweise« (Uli | |
Brand und Markus Wissen) mittlerweile tief in die zivilisatorischen | |
Verhältnisse ein – mit einer barbarischen Reduzierung des demokratischen | |
Handlungsraums auf Freund-Feind-Logiken genauso wie mit der Rückkehr des | |
manifesten Imperialismus, zunächst mit dem russischen Angriffskrieg auf die | |
Ukraine, demnächst mit Landnahmen an anderen Stellen durch andere | |
Diktatoren und Autokraten. Die Handlungsräume für die weitere Ausgestaltung | |
des zivilisatorischen Projekts werden damit immer noch enger, und die | |
Zukunft, die aufgeboten wird, desgleichen. Denn je deutlicher wird, dass | |
die klassische Strategie des moralisch bankrotten reichen Onkels, der die | |
von ihm verursachten Probleme mit Geld erledigt, auf Dauer nicht | |
funktionieren kann, desto klarer wird, dass weder Politik noch Wissenschaft | |
noch Philosophie noch Ökonomie irgendwas auf Tasche haben, was man eine | |
»Zukunft für das 21. Jahrhundert« nennen könnte. Das liegt auch daran, dass | |
sich die Ökologiebewegung im Zuge ihres fortschreitenden | |
Integrationsprozesses in den normalkapitalistischen Lauf der Dinge sozial | |
und kulturell immer weiter entkernt hat. Von dem, was André Gorz, Ivan | |
Illich oder Denis de Rougemont vorgedacht hatten, blieb am Ende nur der | |
technische Fortschritt. Der so tat und tut, als könne er den sozialen und | |
kulturellen ersetzen. Aber selbstverständlich ist das, wofür technischer | |
Fortschritt eingesetzt wird, die abhängige Variable der Kultur, weshalb | |
unter den gegenwärtigen Steigerungslogiken jede auch noch so brillant | |
erzielte Einsparung von CO2 durch den gigantischen Mitteleinsatz für diese | |
Einsparung ad absurdum geführt wird. Einfacher formuliert: In einer Welt, | |
in der Elektroautos mit 600 oder, wie in den USA, mit 1.100 PS in den | |
Verkehr gebracht werden, laufen mindestens zwei von fünf Windrädern | |
ausschließlich für Verschwendung. | |
Dasselbe gilt für alles andere, was unter nach wie vor größtem Energie- und | |
Materialaufwand hergestellt, transportiert, verkauft und entsorgt wird. Im | |
Jahr 2020, sechzig Jahre nach dem hobby-Heft, hat die tote Masse – also | |
Häuser, Parkplätze, Brücken, Maschinen, Autos, Panzer, Plastik – die | |
Biomasse erstmals übertroffen. Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass uns | |
technischer Fortschritt aus der damit einhergehenden Zerstörung des Vitalen | |
erlösen kann? Ja, dass darin so etwas wie Zukunft liegt? | |
Vor fast einem halben Jahrhundert hat de Rougemont von der Verwechselung | |
von lebendigem mit wirtschaftlichem Wachstum, also der quantitativen | |
Ausweitung der Gütermenge gesprochen: »Das wahre Wachstum«, schrieb er, | |
»hat ein Programm, das seine Entfaltung, seinen Verfall und seinen | |
Untergang umfasst. Das falsche Wachstum ist ohne Programm, theoretisch | |
unbegrenzt; einmal in Gang gesetzt, führt es zu wachsender Entropie.« Und | |
dieser entropische Prozess hat schließlich auch noch die Zukunft in einer | |
Gegenwart aufgehen lassen, die desto wütender mit der Zerstörung | |
weitermacht, je klarer die Grenzen des Wachstums sich zeigen. Weitermachen | |
frisst Zukunft. | |
Ohne einen Horizont freilich, wohin eine moderne Gesellschaft und ihr | |
zivilisatorisches Projekt steuern sollen, wird man sich mit der | |
Fortschreibung des Mythos begnügen, dass wir noch vor der Katastrophe sind. | |
Nein, die zunehmende Aggression der Menschen gegen die Natur, gegen die | |
anderen Menschen und gegen sich selbst, von der Hartmut Rosa im Interview | |
in diesem Heft spricht, zeigt den Zerfall jenes Fortschritts an, der ein, | |
zwei Generationen – je nach Weltregion – gut funktioniert hat. | |
Man sollte seinen Abschied jetzt vorziehen – vor die finale | |
Selbstzerstörung. Worauf es mehr denn je ankommt, ist eine Versöhnung mit | |
den Bedingungen, die unsere Existenz ermöglichen und die die Zukunft von | |
gestern unterminiert. Die Zukunft von heute hätte ein Bild vom Wiederaufbau | |
zerstörter Landschaften, von der Entsiegelung von Boden, von der Vernässung | |
von Mooren, von der Verlangsamung der Geschwindigkeit, von einer Ökonomie | |
der Endlichkeit und von einem besseren Zusammenleben zu zeichnen. Alles | |
dies scheint mir viel attraktiver als Schwundutopien vom Typ | |
»Dekarbonisierung« oder »1,5-Grad-Ziel«. Es wäre eine Zukunft des Humanen, | |
in der der Krieg gegen die Natur, gegen die anderen und gegen sich selbst | |
aufgehört hat, die man entwerfen und über die man sprechen kann. Das wäre | |
ja schon das bessere Leben. | |
Man muss sich nur gestatten, das für möglich zu halten. | |
8 Dec 2022 | |
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## AUTOREN | |
Harald Welzer | |
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