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# taz.de -- Prüfungen des Ich
> Der Demokratieforscher Pierre Rosanvallon plädiert dafür, die subjektive
> Erfahrung in die Forschung einzubeziehen, um dem Populismus zu begegnen
Von Rudolf Walther
Die Mainstream-Soziologie beruht im Wesentlichen auf statistischen Daten
und Meinungsumfragen, die aus Durchschnittswerten zu Einkommen, Vermögen
Bildungsgang, Religionszugehörigkeit und Herkommen gewonnen werden. Die
objektiv erhobenen Daten zur Lebenslage und Biografie der Befragten werden
nach bestimmten Methoden der Sozialstatistik auf die Gesamtbevölkerung
hochgerechnet.
Aber diese Daten reichen nicht an das persönliche Leben, Erleben und
Befinden der wirklichen Existenz der Menschen heran, das heißt, deren
existenzielle Dimension, die gekennzeichnet wird von Prüfungen durch Tod,
materiellen Verlusten und Lebenskrisen, gehen nicht in soziologische
Analysen ein. Die private oder subjektive Seite des Lebens bleibt für die
Wissenschaft von der Gesellschaft eine Blackbox, dabei sind es gerade
subjektive Erfahrungen der Missachtung, Diskriminierung und
Chancenverweigerung im realen Leben, die dafür verantwortlich sind, dass
das programmatisch deklarierte Ziel der modernen und aufgeklärten
Gesellschaften – das Zusammenleben von Gleichen unter Gleichen in
rechtsstaatlich organisierten Staaten und Gesellschaften – planmäßig
verpasst wird.
Rosanvallon stellt deshalb die existenziellen Prüfungen von Menschen durch
Missachtung, Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Unsicherheit im
wirklichen Leben in den Mittelpunkt seines klugen Buches, denn diese
Prüfungen bilden den Kern dessen, was Menschen Sorgen und Probleme
bereitet, für die im Rahmen des Systems Lösungen unmöglich erscheinen,
woraus bei Menschen „Politikverdrossenheit“ und Ohnmacht resultieren, die
das Leiden in und an der Gesellschaft verstärken.
Wie dringend die Berücksichtigung der existenziellen Dimension des Erlebens
in die soziologische Analyse ist, lässt sich an der Fruchtbarkeit des
Begriffs der „moralischen Ökonomie“ in der historischen Untersuchung der
Entstehung der britischen Arbeiterklasse in der monumentalen und
bahnbrechen Studie von E. P. Thompson ermessen. Angesichts des Protests der
Bewegung der Gelbwesten blieben die Erklärungen französischer Soziologen,
gerade was die moralischen Motive der Akteure betrifft, in grotesken bis
hilflosen Analogien mit den Brotrevolten im 18. Jahrhundert stecken.
Während die Sensibilität für Ungerechtigkeit gegenüber Menschen eher wächst
und in Rechtsstaaten auch relativ leicht justiziabel ist, herrscht bei
vielen gegenüber Ungleichheit Sprachlosigkeit – wohl auch, weil
Justiziabilität, wenn überhaupt, nur schwierig zu erreichen ist.
Die unterschiedliche Sensibilität liegt vor allem darin begründet, dass
Ungerechtigkeit, im Unterschied zu Ungleichheit, bei vielen spontan heftige
Emotionen auszulösen in der Lage ist. Enorme Ungleichheit bei Einkommens-
und Vermögensverhältnissen gilt dagegen als normal oder „systemrelevant“
und wird akzeptiert. Unsicherheit hält Rosanvallon für „die schlimmste Form
der Unterdrückung“ und eines der größten Risiken in modernen
Gesellschaften. Es handelt sich allerdings, wie andere Großrisiken, etwa
Kriege, Bürgerkriege, Pandemien oder Klimakatastrophen, um ein
nichtversicherbares Risiko. Ein Risiko übrigens, das auch von
sozialstaatlich vorgesehenen Versicherungen gegen Krankheit, Unfall,
Arbeitslosigkeit und Pflegebedürftigkeit nicht gedeckt wird.
3 Dec 2022
## AUTOREN
Rudolf Walther
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