# taz.de -- Wimmelbild für die Zukunft | |
> Wie weitermachen? Das Performancekollektiv She She Pop sucht in „Mauern“ | |
> am HAU1 nach neuen Kunst- und Lebensformen, ohne alles Alte | |
> wegzuschmeißen | |
Bild: Die bunten indigenen Kostüme müssen offensichtlich nicht aussortiert we… | |
Von Eva Behrendt | |
Was kann weg, und was soll bleiben? Vier Frauen waten auf dem vorderen | |
Bühnenstreifen durch einen Haufen Bücher und Schallplatten aus dem letzten | |
Jahrhundert und sortieren: John Lennon behalten? Gudrun Pausewangs | |
dystopische „Die letzten Kinder von Schewenborn“, weil „sie wieder | |
erschreckend aktuell sind“? Oder den Schmuckband „DDR“, weil der Osten wie | |
immer und auch hier unterrepräsentiert ist – während Germaine Greer und die | |
„Dirty Dancing“-Platte auf den Müll fliegen? | |
Die Frage danach, was wegkann und was bleiben darf, wird im Laufe des | |
Abends zu so etwas wie einem unausgesprochenen Stilelement. Zunächst | |
knüpfen Johanna Freiburg, Ilja Papatheodorou und Berit Stumpf vom | |
Performancekollektiv She She Pop und die Autorin Peggy Mädler mit ihrer | |
neuen Produktion „Mauern“ an das ältere Stück „Schubladen“ an, in dem… | |
2012 je drei Mitglieder der West-Gruppe mit den Ost-Künstlerinnen Mädler, | |
Annett Gröschner und Alexandra Lachmann über ihre unterschiedlich | |
ideologisch geprägten Biografien austauschten. Und eins ist jetzt schon | |
klar: Das feministische Kollektiv kann nicht einfach ein Sequel | |
inszenieren, zu viel ist in den letzten zehn Jahren passiert – und zu viel | |
einfach so weitergegangen. | |
Bereits das heitere Büchersortieren, bei dem die besten Pointen des Abends | |
fallen, wirkt wie ein ad absurdum getriebener Workshop der Ausmist-Queen | |
Marie Kondo, in dem einzelne Spielerinnen immer neue Regeln aufstellen: vor | |
dem Sprechen tief ein- und ausatmen, ankündigen, dass man sprechen will, | |
wobei die Zuhörerinnen die Sprecherin anfassen müssen. Nicht nur das | |
Regelwerk, auch personell und räumlich wuchert die Aufführung in den | |
folgenden 100 Minuten aus. Schriftstellerin Annett Gröschner tritt live | |
hinzu, Alex Lachmann singt im Video aus Schuberts „Winterreise“, und auf | |
tragbaren Videobildschirmen nehmen die deutlich jüngeren | |
Gastkünstler:innen Natasha Borenko aus Sibirien und Jahye Khoo aus | |
Südkorea teil (tatsächlich sind sie, wie sich beim Schlussapplaus zeigt, im | |
Theater anwesend). | |
Sie tragen, wie später auch die anderen Performerinnen, bunte, indigene | |
Trachten zitierende Strickhauben (Kostüme Lea Sovso) und dienen ganz | |
offensichtlich der Diversifizierung des deutschen Frauencasts – sowie der | |
Erweiterung in einen auch spirituellen Osten, aus dessen Perspektive selbst | |
die dialektisch geschulten Materialistinnen aus Dresden und Prenzlauer Berg | |
unerhört westlich sind. | |
Doch tauchen die Spielerinnen in vergangene Bildwelten ein – und das ganz | |
buchstäblich. Rechts vorne am Schreibtisch werden Bildbände aufgeschlagen, | |
Häuserfronten der Wendezeit auf zwei schwarze Gazevorhänge dahinter | |
projiziert; dazwischen ragt zackig ein schwarzes Stoffgebirge empor, in das | |
die Performerinnen in ihren bunten Kleidern und Overalls aufbrechen. „Berit | |
hat gerade die fünfte Wand durchbrochen“, kommentiert Gröschner, als wär�… | |
ein Fußballspiel. Auf Leitern und Schaukeln baut sich das Team in die | |
Projektionen ein – eine Praxis, die She She Pop schon in anderen | |
Inszenierungen erprobt hat und die doch technisch knifflig ist, da die | |
Perspektiven im oder am Bild andere sind als aus der Distanz des | |
Zuschauerraums. | |
Vom Erinnerungs- zum Zukunftsspiel verschiebt sich „Mauern“ durch die Gäste | |
Natasha und Jayhe. Wo auch immer sie sei, trage sie diese Welt in sich, | |
sagt Borenko („I come from a terrorist state“) vor einer Luftaufnahme | |
grauer Plattenbauten, und man denkt erst, sie meint diese Trostlosigkeit. | |
Aber dann beschreibt sie eine idyllische Zukunft im sibirischen Schnee, mit | |
wissenschaftlicher Forschung, Festen und einer Kartoffelallmende, die | |
sogleich zu abgehackten Loops aus Smetanas „Moldau“ auf der Bühne | |
nachgebaut wird. Und der:die non-binäre Jahye fordert von der Crew ein | |
Begräbnis seines:ihres alten Körpers. Als Schnurrbart, den er:sie sich | |
dafür wünscht, wird schließlich der Körper von Peggy Mädler über ihr groß | |
projiziertes Gesicht gepuzzelt, während Ilja Papatheodorou ihren Bizeps | |
rechts und links daneben collagiert. | |
Wie überhaupt weitermachen, wenn man keinesfalls so weitermachen kann? | |
„Mauern“ zeigt, dass She She Pop auf diese Frage noch keine | |
zufriedenstellende Antwort haben, sich aber bei der Suche danach tief ins | |
Kartenchaos gucken lassen. Und immerhin setzt sich für wenige Augenblicke | |
ein wirres, aber nicht unsympathisches Wimmelbild zusammen, eine wacklige | |
Zukunftsassemblage. Ein Hoffnungsschimmer sozusagen. | |
12 Dec 2022 | |
## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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