# taz.de -- Wenn der Atem schwach wird | |
> Mehr als einen flüchtigen Blick wirft die Künstlerin Almut Linde auf | |
> Gruppen am Rande der Gesellschaft. Ihre Ausstellung „Still Alive“ in der | |
> PSM Galerie erzählt davon in drei Kapiteln | |
Bild: Die Arbeit „Breath“ in der Ausstellung „Still Alive“ von Almut Li… | |
Von Paula Marie Kehl | |
Was Kunst greifbar macht, sind oft Realitätsbezüge. Damit einher geht eine | |
Konfrontation mit Wirklichkeiten, die unangenehm sein kann, aber wichtig | |
ist. | |
Die Künstlerin Almut Linde konfrontiert mit ihren Arbeiten ihr Publikum. In | |
„Still Alive“, ihrer jüngsten Ausstellung in der PSM Galerie in Berlin, | |
rückt sie in den Fokus, was sonst bewusst oder unbewusst außer Acht | |
gelassen wird. In unzähligen Projekten nutzt Linde ihre Kunst als | |
Sprachrohr und macht damit Menschen sichtbar, die sonst übersehen werden. | |
In die ästhetischen Prozesse involviert sie meist marginalisierte Menschen | |
oder Menschengruppen und erzählt nicht über prekäre Lebensbedingungen, | |
sondern lässt die Personen selbst erzählen, ausdrücken und darstellen. Das | |
Medium bestimmt dabei die Konzeptkünstlerin selbst. | |
Nach einer Einführung in die Kunst und dem Abstecken ihrer Idee für die | |
Beteiligten lässt sie das Projekt los. Dann ist es an den jeweiligen | |
Personen, was damit geschieht. Im ersten der drei Räume treffen die | |
Besucher:innen auf eine beinah bodenbedeckende Fläche weißer Ballons. | |
„Breath“ (2022) ist der Titel und weist auf das hin, was die Ballons | |
beschreiben: Sie sind gefüllt mit dem Atem von Menschen in prekären | |
Lebenssituationen, meist Niedriglohnarbeitern. Im Rahmen des Projekts waren | |
sie bereit, ihren Atem zu verkaufen oder frei zur Verfügung zu stellen. Zu | |
Beginn der Ausstellung mussten die Besucher:innen noch durch die | |
Ballons hindurchgehen, um in den zweiten Raum zu gelangen, und kamen | |
dadurch automatisch in Kontakt mit dem fremden Atem. Die Luft weicht jedoch | |
mit der Zeit durch die dünne Latexmembran, die Ballons werden kleiner. Ein | |
Sinnbild für den ausgehenden Atem. | |
„Dirty Minimal“ umfasst eine Reihe von verschiedenen Arbeiten, so auch die | |
im zweiten Raum: Während die Ballons im ersten Raum schrumpfen, soll dieses | |
Projekt weiterwachsen: „Still Alive (street diary)“ nennt es sich und ist | |
ebenfalls in diesem Jahr entstanden. Hier ist eine Reihe gesammelter | |
Skizzen und Notizen von wohnungslosen Menschen oder | |
Flaschensammler:innen eingerahmt zu sehen. Über mehrere Wochen hatte | |
die Künstlerin Wohnungslose angesprochen und sie gefragt, ob sie ihre | |
Gedanken und Gefühle für das „street diary“ zu Papier bringen wollen. Die | |
durch Worte oder Bilder festgehaltenen Empfindungen und Erfahrungen gehen | |
in ihrer Direktheit und Ehrlichkeit nah. Sie erzählen von Traurigkeit, | |
Enttäuschung und manchmal auch von besseren Tagen. | |
So gedenkt eine Person eines verstorbenen Freunds, eine andere beschreibt | |
ihre Enttäuschung: „Ich fühle mich im Stich gelassen, da die ARGE immer | |
noch die für mich so wichtigen 200 Euro nicht überwiesen hat. Ich habe zwei | |
Hunde, muss meine Haftpflicht und Futter usw. bezahlen, und sitze auf dem | |
Trockenen.“ Die gesammelten Beschreibungen verändern beim Lesen und | |
Betrachten den Blick auf das Bewusstsein für die Lebensrealitäten auf der | |
Straße. Sie bringen näher, was sonst fern erscheint. | |
Eine empfundene Distanz ist auch aus den meist wenigen Zeilen | |
herauszulesen: „Mein Tag war durchwachsen, aber im Großen und Ganzen waren | |
die Leute und der Tag in Ordnung“, schreibt eine Mitwirkende. Die | |
Beschreibungen klingen wie Beobachtungen von Außenstehenden, die „die | |
Leute“ als eine fremde Einheit wahrnehmen. Geplant ist, den Raum mit seinen | |
Notizen erweitern zu lassen, dafür möchte Linde weitere Gedanken und Worte | |
sammeln. Zudem ist im Zuge des Projekts eine [1][Website] entstanden, auf | |
der die gesammelten Zettel ebenfalls zu sehen sind. | |
Die Schau schließt im letzten Raum mit der Werkserie „Dirty Minimal | |
#45.8.3- Night drive still/streetwalker“ ab. Ausgestellt sind mehrere | |
Videostills, die 2007 an der tschechisch-deutschen Grenze entstanden sind. | |
Dieses Gebiet gilt als ein brutaler Ort für Kinderprostitution und | |
Menschenhandel in Europa. Aus einem fahrenden Auto heraus aufgenommen, | |
lässt die verschwommene Sicht einen Straßenrand bei Nacht erahnen. Details | |
sind nicht zu erkennen. So bleibt die Schwere der Thematik zunächst im | |
Dunkeln verborgen, und die Bilder wirken auf den ersten Eindruck | |
unscheinbar. | |
Erst mit dem Hintergrundwissen bekommen die Bilder Gewicht. Da das Gebiet | |
aufgrund von mafiösen Machenschaften für die Künstlerin alleine zu | |
gefährlich gewesen wäre, fuhr sie damals mit Karo e. V. an die Grenze. Der | |
Verein setzt sich seit Jahren für Opfer von Gewalt und Unterdrückung ein | |
und hat sich an der tschechisch-deutschen Grenze eine gewisse Anerkennung | |
erarbeitet. In der Ausstellung ist eine Information über Organisationen wie | |
Karo e. V. ausgelegt, an die man spenden kann. So erhalten sie bei Almut | |
Linde eine Bühne. | |
Almut Linde, PSM Galerie (Schöneberger Ufer 61), Di.–Sa. 12–18 Uhr, bis 7. | |
1. 2023. Ein Gespräch mit Almut Linde findet zur Finissage am 07. Januar | |
2023 statt | |
8 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] http://still-alive-online.de/ | |
## AUTOREN | |
Paula Marie Kehl | |
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