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# taz.de -- Wo ist die stadtpolitische Haltung?
> Die „Europa City“ hinterm Hauptbahnhof ist fast fertig, was einigen
> Künstlern Anlass bot, sie mal auf ihre stadtgesellschaftliche
> Tauglichkeit zu überprüfen. Dazu ist jetzt eine Publikation entstanden
Bild: Das „Wir“ und das „Ihr“ vor aufragenden Neubauten, Performance im…
Von Michael Freerix
Es ist noch nicht alles fertig gebaut in der „Europa City“. So nennt sich
das Neubaugebiet auf dem ehemaligen Gleisgelände des Lehrter Bahnhofes, der
jetzt der Hauptbahnhof ist. Es ist umbauter Raum der besonderen
Größenordnung: Auf ca. 610.000 Quadratmetern sollte ursprünglich Raum für
58 Prozent Büros, 34 Prozent Wohnen, 5 Prozent Einzelhandel sowie 3 Prozent
Kultur entstehen. Von den geplanten 3.000 Wohnungen sollten 270
mietpreisgebunden sein.
Doch was genau für eine Bedeutung hat diese Art von Bebauung für die Stadt
an sich und für das städtische Wohnen? Dieser Frage gehen die Künstler
Alexis H. Wolff, Yves Mettler und Achim Lengerer in ihrem Buch „Am Rand von
Europa City“ nach. Wobei die drei eine speziell politische Qualität dieses
Neubauareals sehen, denn das gehörte ursprünglich einmal dem Staat, also
dem Steuerzahler. Trotzdem wurde es von der Bahn an private
Immobilienentwickler verkauft, ohne dass der Staat dort stadtpolitisch
richtungsweisend eingriff. Zu einer Zeit, in der die Stadt noch nicht vom
Immobilienboom profitierte, war man schon froh, das hier überhaupt „nicht
schlechte Architektur entstand“, wie es die damalige Baustadträtin Regula
Lüscher formulierte.
Was jetzt gute oder schlechte Architektur ist oder nicht ist, darüber wird
viel gestritten. Gestalterisch wirkt die Europa City zumindest
abwechslungsreich: Klinkerbauten stehen neben Bauten mit verputzten
Außenfassaden und dazwischen finden sich die, mit Trendmaterialien
verzierten, Stahlbetonbauten. Auch für parkähnliche Anlagen, auf denen
sogar vereinzelt Kinder spielen, ist Platz. An den stark befahrenen Straßen
und zum Hauptbahnhof hin stehen die Gebäude mit den Gewerbeeinheiten, bis
hoch zur Fennstraße, wo die Brückenbauten der Bahn die Grenzen des
städtischen Bauens brutal deutlich machen. Stellenweise sind auch Altbauten
erhalten geblieben, was Raum für charmante Brüche lässt. Diese wirken wie
ein Fingerzeig auf den Slogan „The Mix of Berlin“, mit dem der
Immobilienentwickler, der das Areal gekauft und ausgearbeitet hat, wirbt.
Lebt hier aber auch der „Mix von Berlin“?
Mit dieser Frage beschäftigen sich die drei Künstler in ihrer Publikation
„Am Rand von Europa City“. Akribisch zeichnen sie die Entstehung dieses
Neubauviertels nach. Allein durch dessen Größe sehen die Autoren die
Gefahr, dass dieses neue Stadtviertel negative Auswirkungen auf das
Berliner Stadtleben hat. Sie fürchten Verdrängung und Vereinzelung.
Diese Phänomene lassen sich bereits jetzt im angrenzenden Moabit
beobachten. Dort hat sich über lange Zeit eine offen wirkende Mischung aus
kreativ genutzter Lücke und den vielen Neubauten entwickelt. Doch die
vermeintliche Offenheit, die für diesen „Mix von Berlin“ so notwendig ist,
lässt sich laut Architekt Matthias Sauerbruch „nur schwer planen“. In der
Europa City nämlich ist davon nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil, die
Autoren des Buches befürchten, dass sich das noch offene Moabit an die
geschlossene Gesamtplanung der Europa City wird anpassen müssen.
Nun ist dieses Buch keine soziologische Untersuchung über Gentrifizierung,
sondern Ergebnis einer künstlerischen Intervention. Die Künstler
beobachteten das Neubauviertel von außen, anhand von künstlerischen und
philosophischen Gesichtspunkten. Architektur und Stadtplanung werden
kritisiert, vor allem die Abwesenheit einer stadtplanerischen Haltung von
Seiten der politisch Verantwortlichen. Und es wird ein „Wir“ gegen ein
„Ihr“ formuliert, wobei „Wir“ die städtisch Kreativen sind, das „Ihr…
jedoch die anonymen Neubewohner. Diese kommen nicht zu Wort, sind abwesende
Spekulationsmasse.
Und die hat sich bereits ihre klar strukturierte Neubauwelt wohlig
eingerichtet. Auf den Balkonen ist viel Ziergrün zu sehen, nur selten noch
ein Schild, das auf Leerstand hinweist. Was für Effekte diese Neubebauung
auf das direkte Umfeld haben wird, das wird sich in Zukunft abzeichnen.
Dieses Buch formuliert, und zwar sehr glaubhaft, vor allem die Befürchtung,
dass sich eine Entmischung entwickelt, eine Stadt der getrennten Welten,
wie sie in anderen Städten bereits zu beobachten ist. Da gehört der
Stadtinnenraum den Privilegierten, der Stadtrand den Unterprivilegierten.
In Berlin fehlt eine Gegenbewegung, ein massiver Neubau von Wohnraum mit
bezahlbaren Mieten, in attraktiven Innenstadtbezirken.
„Berliner Hefte zu Geschichte und Gegenwart der Stadt #9“. „Am Rand von
Europa City“. Alexis Hyman Wolff, Achim Lengerer, Yves Mettler (Hg.)
20 Oct 2022
## AUTOREN
Michael Freerix
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