# taz.de -- Dem Eisbrecher bricht das Eis weg | |
> Seit 1982 sammelt die „Polarstern“ Daten über die kältesten Regionen der | |
> Welt. Ihre Fahrten liefern wichtige Erkenntnisse über die globale | |
> Erwärmung. Bald geht das Forschungsschiff in Rente | |
Bild: Die „Polarstern“ bei einer Expedition in der Arktis. 2008 umrundete s… | |
Aus Bremerhaven Teresa Wolny | |
Ayla Murray und Meret Jucker erforschen weitgehend unbekannte Tiere. Ihre | |
Verbreitung: unbekannt. Wie sie auf das wärmer werdende Wasser in der | |
Arktis reagieren: unbekannt. Wie alt die Tiere werden und wo sie sich | |
fortpflanzen: unbekannt. „Es ist einfach irre, wie wenig wir wissen“, sagt | |
Murray. Murray und Jucker sind Doktorandinnen am Alfred-Wegener-Institut | |
(AWI), dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. | |
Von Ende Juni bis Mitte August waren die beiden Wissenschaftlerinnen an | |
Bord der „Polarstern“, um Daten über Jellys zu erheben. | |
Jellys sind Weichtiere ohne Exoskelett, die wie Krill zum Zooplankton | |
gehören. Das bekannteste Beispiel sind Quallen. Die Tiere seien nicht nur | |
in der Fischerei, sondern auch in der Forschung lange sehr unbeliebt | |
gewesen, erzählt Murray. Ihr Glibber verstopft Netze und die | |
Wasserzuleitungen von Schiffen, oder sie vermehren sich an bestimmten Orten | |
in rasender Geschwindigkeit. In einem norwegischen Fjord führte eine solche | |
Quallenblüte dazu, dass es dort seit Jahrzehnten keine Fische mehr gibt. | |
In der Framstraße zwischen Grönland und Spitzbergen nahmen Murray und | |
Jucker Wasserproben, fingen die Tiere in speziellen Netzen und | |
fotografierten sie mit Unterwasserkameras. „Die Hypothese ist, dass sich | |
die Artenzusammensetzung mit dem wärmeren Wasser verändert“, erklärt | |
Jucker. Bisher sei noch völlig unbekannt, wie sich das Verschwinden des | |
arktischen Meereises auf die Tiere auswirke. | |
In der Arktis sind die Folgen der Erderhitzung besonders drastisch: In den | |
letzten 40 Jahren ist die Ausdehnung des Meereises dort im Sommer um 40 | |
Prozent zurückgegangen. Bei der letzten Arktisfahrt untersuchten Forschende | |
auf der „Polarstern“ die in der Eisrandzone zerfallenen Eisschollen. Auch | |
die Schmelzteiche auf dem Meereis wurden genauer erforscht. Neben den | |
Quallen gab es Projekte, die sich mit anderem Plankton oder mit der | |
Nährstoffversorgung im Wasser beschäftigten. Insgesamt waren zehn | |
verschiedene Forschungsprojekte an Bord. | |
Vor zwei Jahren endete auf der „Polarstern“ mit MOSAiC außerdem die bisher | |
größte Arktisexpedition. Von September 2019 bis Oktober 2020 war das Schiff | |
unterwegs, um Daten über das globale Klimasystem zu sammeln. Bis auf 156 | |
Kilometer kam sie dabei an den Nordpol heran – so nah wie noch nie ein | |
anderes Schiff zuvor. Anfang diesen Jahres machte die „Polarstern“ erneut | |
Schlagzeilen, als AWI-Wissenschaftler:innen in der Antarktis das größte | |
bisher bekannte Fischbrutgebiet entdeckten. Geschätzte 60 Millionen | |
Eisfische nisteten zum Zeitpunkt der Untersuchungen im Weddelmeer. | |
Der Forschungseisbrecher mit seinen neun wissenschaftlichen Laboren, in | |
denen auch Ayla Murray und Meret Jucker ihre Jellys aus den Wasserproben | |
herausgefischt haben, ist etwa 310 Tage im Jahr unterwegs. Nur ein paar | |
Tage lag die „Polarstern“ diesen August in Bremerhaven, ihrem Heimathafen. | |
Aktuell ist sie im Atlantik in Richtung Kapstadt unterwegs. Auf dem Weg | |
nach Süden werden an Bord unter anderem Strömungen und die Dichte von | |
Wassermassen vermessen. Damit wollen die Forschenden herausfinden, ob und | |
wie sich bestimmte Gewässer erwärmt haben. | |
Seit 1982 ist die „Polarstern“ in den Polregionen der Erde unterwegs, 1,8 | |
Millionen Seemeilen – eine Seemeile entspricht 1.852 Meter – hat sie laut | |
AWI seitdem zurückgelegt, das entspricht 82 Erdumrundungen am Äquator. 2008 | |
umrundete sie als weltweit erstes Forschungsschiff den Nordpol. Neben der | |
Forschung versorgt das Schiff auch die deutschen Forschungsstationen in der | |
Antarktis, Neumayer III und Kohnen. | |
Das aktuelle Projekt, das die „Polarstern“ in die Südhalbkugel führt, hei… | |
NOSOAT (kurz für „North South Atlantic Training“. „Diese Strecke ist sehr | |
wichtig, weil wir durch fast alle Klimazonen der Erde fahren“, erklärt | |
Karen Wiltshire, stellvertretende Direktorin am AWI und Expeditionsleiterin | |
der Fahrt. Durch regelmäßige Messungen an den immer gleichen Stellen im | |
Ozean erhalten die Forschenden Langzeitdaten, die fundamental für die | |
Modellierungen von Klimaszenarien sind. „Wir müssen immer noch besser | |
verstehen, wie es um den Ozean steht“, sagt Wiltshire, die selbst | |
Umweltwissenschaftlerin ist. | |
Eine Besonderheit auf dieser Fahrt: Die Messungen werden von jungen | |
internationalen Wissenschaftler:innen durchgeführt, die auf dem Schiff | |
eine Art schwimmende Sommerschule absolvieren. Das Ganze ist Teil der von | |
den Vereinten Nationen ausgerufenen „Ozean-Dekade“, die bis 2030 Lösungen | |
für den Schutz und die nachhaltige Nutzung der Weltmeere unterstützt. Unter | |
anderem soll ihre natürliche CO2-Speicherfähigkeit verbessert und ihre | |
Vermüllung gestoppt werden. Die UN setzt dabei auf „disziplin- und | |
länderübergreifende“ Forschung – wie auf der „Polarstern“. | |
„Es ist extrem wichtig, dass wir weltweit Meeresexpert:innen haben und | |
zwar nicht nur in den reichen Ländern“, betont Wiltshire, die zu den | |
Gründungsmitgliedern der „Scientists for Future“ in Deutschland gehört. D… | |
14 Doktorand:innen lernen auf dem Forschungsschiff zum Beispiel, die | |
energetischen Zustände von Wassermassen zu messen und zu berechnen, | |
Modellierungen zu erstellen und – ganz allgemein – auf einem Schiff zu | |
forschen: „In fünf oder sechs Kilometern Tiefe Wasser ziehen und daraus | |
Rückschlüsse zu dessen Zustand zu ziehen, kann man nicht einfach | |
theoretisch, das muss man mal gemacht haben“, sagt Wiltshire. | |
Besonderen Wert habe dabei die interdisziplinäre Ausrichtung des Trainings. | |
„Das Meer ist nie nur Wasser, nur Chemie oder nur eine bestimmte | |
Oberfläche, sondern ein riesiges Ökosystem.“ Häufig seien Forschende | |
Wiltshire zufolge zwar exzellent in ihren jeweiligen Disziplinen, „zu | |
anderen Fachrichtungen machen sie dann aber Annahmen, die eher theoretisch | |
sind und nicht gut verstanden werden“. | |
Die Umweltwissenschaftlerin möchte daher den Dialog zwischen den Fächern | |
fördern, die auf der „Polarstern“ vertreten sind. Das soll passieren, indem | |
Physiker:innen zum Beispiel mikroskopieren und auch Biolog:innen | |
sich mit Modellierungen auseinandersetzen. „Meine Erfahrung ist, dass die | |
meisten Menschen das sehr gut können“, sagt Wiltshire. | |
49 Wissenschaftler:innen passen auf das Forschungsschiff. Daneben gibt | |
es auf jeder Fahrt eine rund 44-köpfige Crew und manchmal auch Pilot:innen, | |
je nachdem, ob unterwegs Hubschraubereinsätze geplant sind. Nach der | |
Fahrt nach Kapstadt geht es für den Rest des Jahres wieder in die Antarktis | |
und erst im April wieder in den Heimathafen in Bremerhaven. | |
Allzu häufig wird der Eisbrecher wohl nicht mehr auslaufen. 2027 soll die | |
„Polarstern“ in Rente gehen und, so der Plan, nahtlos von der „Polarstern | |
II“ abgelöst werden. Auch dieses Riesenprojekt soll im Zeichen der | |
UN-Ozean-Dekade stehen, die Mittel für den Neubau wurden Anfang des Jahres | |
vom Bundestag genehmigt. Derzeit läuft das Vergabeverfahren. | |
Laut Antje Boetius, Direktorin des AWI, soll auch die neue „Polarstern“ | |
Erkenntnisse aus den Polarregionen liefern, „die unsere Gesellschaft | |
dringend benötigt, um die richtigen Entscheidungen zu Klima-, Umwelt- und | |
Naturschutz zu treffen“. Dafür soll neben klimafreundlicher Technik auch | |
ein sogenannter Moonpool eingebaut werden. Durch eine Öffnung im Rumpf | |
können die Tauchroboter der Zukunft auch unter das schmelzende Eis von | |
Arktis und Antarktis tauchen. Auch von der „Polarstern II“ sind | |
spektakuläre Forschungsergebnisse zu erwarten. | |
1 Oct 2022 | |
## AUTOREN | |
Teresa Wolny | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |