# taz.de -- berliner orte für die kunst, teil 3: Cupcake oder Zitadelle | |
Von Hans-Jürgen Hafner | |
Noam Chomskys Aufruf „Rebellion oder Untergang“, Wladimir Majakowskis | |
„Lenin“-Epos oder das sorgfältig edierte Protokoll eines Treffens der Roten | |
Garde aus der Zeit der chinesischen Kulturrevolution: geistige Munition für | |
den Klassenkampf hat der kleine Buchladen a. p. an der Lindower Straße 20 | |
zu bieten. Mitten im mythisch „roten“ Wedding ist er dort im | |
Vorderhaus-Neubau zu finden. Dahinter versteckt sich ein mächtiges | |
Gebäudeensemble, ein seit Kurzem rundum sanierter Fabrikkomplex in einem | |
Klinkerbau aus dem 19. Jahrhundert. | |
In diesem Musterstück Berliner Industriegeschichte residiert seit 2020 eine | |
privat betriebene Kunstinstitution namens Callie’s. Das klingt und sieht | |
auf der Homepage so aus, als gäbe es dort zuckersüße Cupcakes zu kaufen. | |
Dabei vergibt das Haus „residencies“, Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für | |
Künstler. Nebenan entsteht eine ambitionierte Großarchitektur. Das urbane | |
Wohn- und Geschäftshaus, wie die ausführenden Architekten Heim Balp den | |
„Mixed Use“-Bau beschreiben, wird das Kultur-Ensemble dann abrunden. Es | |
gehört Francesco dalla Rovere, Modeunternehmer und Kunstsammler aus | |
Vicenza. | |
Ging es hier, zwischen Nettelbeckplatz und dem S-Bahnhof Wedding, bisher | |
noch etwas rauer, ärmer und – im besten multikulturellen Sinn – bunter zu | |
als in Mitte, übertönt nun auch an dieser Ecke das internationale | |
Kunstweltenglisch immer öfter die eingesessen „diversen“ Idiome. Ein | |
kleiner Preis dafür, wenn der Wedding laut Time Out Magazine der | |
viert-coolste Kiez weltweit ist. Prima, dass sich das von der | |
US-amerikanischen Kuratorin und Neuberlinerin Jarrett Gregory als | |
gemeinnützige GmbH geführte Callie’s als „non-profit experimental | |
institution founded for the purpose of fostering creativity, cultural | |
exchange, and cross-disciplinary collaboration“ versteht. Will heißen: | |
neben Ateliers und Micro-Apartments stehen den Künstlern, die gern auch aus | |
dem Tanz und der Musik kommen dürfen, unentgeltlich auch ein Tonstudio und | |
Veranstaltungsräume zur Verfügung. Bedingung: sie müssen für so eine | |
„residency“ ausgewählt sein. Auffällig: Viele der Auserwählten sind | |
wohlbekannt. Wie Rosa Barba, die die erste Ausstellung in der | |
wiedereröffneten Neuen Nationalgalerie bestritt, oder Candice Breitz, | |
Camille Henrot, Peaches und Jeremy Shaw, die ohnehin schon lang in Berlin | |
arbeiten – und das oft sehr erfolgreich, vom eigenen Atelier aus. | |
Wer nun denkt, der ebenfalls von Gregory als GmbH geführte Buchladen a. p. | |
hätte etwas mit Anarchie und Protest zu tun, liegt falsch. Es ist schlicht | |
das Kürzel für „Artist Proof“. So nennt sich das Belegexemplar eines | |
Auflagenwerks, das Künstler für sich selbst behalten. | |
Das passt fast zu gut zu einem lang vernachlässigten Kiez, in dem einst | |
zwar keine wichtigen Kunstorte, aber viele Künstlerateliers zu finden | |
waren, die nun oft der Privatisierung zum Opfer gefallen sind. Spätestens | |
mit dem Callie’s ist aus der Kulturachse zwischen dem Ausstellungsraum | |
SAVVY Contemporary und dem kreativindustriell genutzten Silent Green im | |
ehemaligen Krematorium Wedding (Sitz unter anderem der Harun Farocki | |
Stiftung, der!K7-Label-Gruppe und der transmediale) ein veritables | |
Gentrifizierungsdreieck geworden. In der plumpen „Art Citadel“ nebenan, | |
gebaut von Holzer Kobler Architekturen, kostet laut einschlägiger | |
Wohnungsportale die Monatsmiete für ein – selbstverständlich mit Kunst | |
eingerichtetes – 2-Zimmer-Apartment 4.800 Euro. Naheliegend, dass sich | |
Callie’s fürs Programm künftig öffentliche Förderung wünscht. Die | |
Veranstaltungen sind für alle da. Immobilien, Mäzenatentum und wohl auch | |
die Literatur für den kommenden Aufstand muss man sich eben leisten können. | |
6 Oct 2022 | |
## AUTOREN | |
Hans-Jürgen Hafner | |
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