# taz.de -- Ein Jahr Taliban-Herrschaft: Hippie-Trail reloaded | |
> Im westafghanischen Herat finden sich noch Spuren des Abenteuertrips der | |
> 70er Jahre. Heute kommen die Westler, um sich eine billige Niere zu | |
> kaufen. | |
Bild: Ein Bewohner von Herat zeigt die Narbe nach Entnahme einer Niere | |
Wenn Sie wirklich was Afghanisches wollen, nehmen Sie das hier“, hatte der | |
Antiquitätenhändler in Herat gesagt und mir zwischen britischem | |
Militariakrempel einen alten „Lonely Planet“ gereicht: den ersten | |
Reiseführer von 1973 für den Hippie-Trail nach Asien. Der spätere | |
[1][Reiseführerkonzern Lonely Planet] verdankt den Abenteuertrips junger | |
Westeuropäer auf dem Landweg nach Indien seine Existenz. | |
Aus dem Iran kommend, war Herat die erste afghanische Station. Die Stadt | |
ist fast noch so, wie Afghanistan ohne die vielen Kriege wäre. Doch trägt | |
der erste Junge, der uns begegnet, keine Schulbücher in seiner Tasche, | |
sondern Plastikreste. Er durchsucht den Müll nach Verwertbarem. Denn der | |
Krieg ist hier noch nicht vorbei. Als das US-Militär 2001 Afghanistan | |
angriff, litt hier jeder Dritte an Hunger. Als die Amerikaner vor einem | |
Jahr abzogen, war es bereits jeder Zweite. Und jetzt, mit den Sanktionen | |
gegen das Talibanregime, leben 95 Prozent der Bevölkerung unter dem | |
Existenzminimum. | |
Wir stellen uns Afghanistan immer als rückständiges Land voller ewiger | |
Gewalt und Elend vor. Aber die Straße mit den Antiquitätenläden neben | |
Herats berühmter Jami Masjid, der Freitagsmoschee, erzählt eine andere | |
Geschichte: „Unser Ruin waren die Ausländer,“ sagt der Antiquitätenhändl… | |
Riza Habibi. Damit meint er den Einmarsch der Sowjets 1979. „Afghanistan | |
war großartig. Und besonders Herat, das Florenz unserer Renaissance. Es war | |
ein Hotspot für Künstler. Und Künstlerinnen“, sagt er. | |
Er ist in seinem Laden umgeben von alten Bestecken, Teppichen, Edelsteinen | |
und zwei Flaschen Wein. Denn Afghanistan war berühmt für seine Trauben und | |
den daraus gewonnenen Wein. „Die Islamisten fordern eine Rückkehr zu den | |
Traditionen und Ursprüngen. Aber wer entscheidet, was der Anfang ist?“, | |
sagt er, als sein Sohn eine Rubab, eine Laute, enthüllt. Er schließt die | |
Tür, bevor der Sohn das afghanische Nationalinstrument spielt. Denn das ist | |
jetzt verboten, er könnte dafür eingesperrt werden. | |
Auf alten Polaroidfotos lächeln Mädchen in Shorts an der Bar des | |
Behzad-Hotels. „Es stand genau dort“, sagt Mahdi Sakhi, 61, und zeigt auf | |
einen Laternenpfahl. „Wir haben dort bis zum Morgengrauen getanzt“, sagt | |
er, während sein 19-jähriger Sohn mich anstarrt. Er hat noch nie einen | |
Westler getroffen, der kein Soldat war. Er selbst kann nur noch mit Krücken | |
laufen, seit er auf eine Mine getreten ist. | |
Die Zahl der Blindgänger und Minen wird auf etwa 10 Millionen geschätzt. | |
Sie sind die Überreste eines Krieges, der nach dem 11. September 2001 | |
geführt wurde, um Osama bin Laden zu fangen. Der allerdings wurde später in | |
Pakistan getötet, für einen Angriff, der von Bürgern Saudi-Arabiens | |
ausgeführt wurde – beides mit den USA verbündete Länder: so viel zur Nato | |
aus afghanischer Perspektive. Von jedem getöteten Nato-Soldaten gibt es | |
einen Namen und ein Foto, manchmal gar einen Zeitungsartikel. Von den | |
afghanischen Kriegsopfern gibt es nicht einmal eine Zahl. Denn diese Toten | |
hat nie jemand gezählt. | |
Das Hotel Pardees, die andere damals beliebte Unterkunft in Herat, | |
existiert noch. Jetzt hängt am Eingang die Flagge der Taliban. Niemand | |
hatte vor einem Jahr am 15. August 2021 die Flucht von Präsident Ashraf | |
Ghani von Kabul ins Ausland vorhergesehen, nicht einmal die Taliban. [2][So | |
kamen sie über Nacht wieder an der Macht.] Doch nach einem Jahr scheinen | |
sie noch immer keine klaren Vorstellungen zu haben. So wurden die Schulen | |
für Mädchen geschlossen. Aber zwei Töchter des Talibansprechers Suhail | |
Shaheen studieren selbst im katarischen Doha. Wird es bald Wahlen geben? | |
Ein Parlament? Und was ist mit den Gerichten? Oder der Wirtschaft? | |
Bisher regieren die Taliban nur per Dekret. Es wäre Sache der Ulema | |
gewesen, der Islamexperten, zu erklären, was ein Emirat ist. Aber als sie | |
sich schließlich im Juni versammelten, erklärten sie nur, Afghanen hätten | |
das Recht, nach afghanischer Art zu leben. „Es gibt immerhin eine | |
Errungenschaft, die alle anerkennen: Sicherheit“, sagt der Obstverkäufer | |
Gholam Karimi. „Es ist das erste Mal, dass unsere Kinder Herat sehen. Wir | |
lebten doch die letzten Jahre nur noch verbarrikadiert zu Hause.“ | |
Tatsächlich laufen hier viele Afghanen mit Google Maps herum. | |
Sie machen jetzt Selfies nicht nur bei der Zitadelle, auf dem Basar oder an | |
einem anderen der 780 Denkmäler, die Herat zum Unesco-Weltkulturerbe haben | |
werden lassen, sondern auch vom unscheinbaren Betonhaus von Ismail Khan, | |
einem von den Amerikanern unterstützten Warlord. Herat war sein Leben, doch | |
die Taliban zwangen ihn ins Exil. | |
Auch das für Shakespeare-Aufführungen bekannte Theater wurde dem Erdboden | |
gleichgemacht. Aber erst vor fünf Jahren. „Denn hier geht es vor allem um | |
sozialen Druck“, sagt einer der Schauspieler. Er ist inzwischen Taxifahrer. | |
„Herat war so weltoffen. Aber jetzt ist ganz Afghanistan sehr konservativ. | |
Die Taliban sind ein Spiegel davon. Sie haben die Burka nicht eingeführt | |
oder den Frauen aufgezwungen. [3][Die Burka ist auf dem Land verbreitet.] | |
Aber ehrlich gesagt tragen die Frauen kaum Burka, sie bleiben lieber gleich | |
zu Hause“, sagt er. „Die Taliban sollten sich lieber auf die Wirtschaft | |
konzentrieren.“ | |
Ihre Dresscode-Verordnungen sind eigentlich nur Empfehlungen. „Man versteht | |
nie, was erlaubt ist und was nicht“, sagen mir zwei 26-jährige Frauen unter | |
knöchellanger schwarzer Kleidung im Fifty-Fifty, einem | |
Hamburger-Restaurant. Dort konnte man einst das beste Kabuli essen: | |
Fleisch, Reis und Rosinen, das typisch afghanische Gericht. Heute sitzen | |
die jungen Männer hier links, die jungen Frauen rechts – getrennt durch | |
eine Wand. Auf den Polaroids von früher sind sie zusammen in Pferdekutschen | |
unterwegs. | |
Jahrzehnte nach dem Hippie-Trail und ein Jahr nach Abzug der letzten | |
Nato-Truppen kommen inzwischen wieder Europäer nach Herat – um Nieren zu | |
kaufen. Außerhalb des Zentrums bröckelt die Stadt. Hier geht es von | |
Marmorhäusern zu Steinhäusern über, von Beton zu Backstein und Lehm. Und | |
dann zu den Resten von Lehmhäusern, bis nach Shenshayba. Barfüßige, | |
ungepflegte Kinder drängen sich um uns. Sie hoffen, wir bringen Brot. | |
Vierzig Afghanen haben hier in diesem armen Viertel schon eine Niere | |
verkauft, für je rund 2.600 US-Dollar. | |
Als Transplantationszentrum dient das moderne private Krankenhaus | |
[4][Loqman Hakmin]. Es wurde mit Geld aus Italien gebaut, 2008 eröffnet | |
und wird weiterhin aus Rom unterstützt. Stellvertretender Leiter ist der | |
Arzt Farid Ahmad Ejaz. Er wurde schon wegen illegalen Organhandels | |
verhaftet, aber dann gegen Kaution freigelassen. Laut einem | |
[5][Medienbericht] brüstete sich ein Mitarbeiter des Hospitals schon vor | |
eineinhalb Jahren damit, dass hier in den fünf Jahren zuvor bereits mehr | |
als eintausend Nieren transplantiert worden seien. Ein trotz Verbots sehr | |
lukratives Geschäft. | |
„Ich habe jetzt überall Schmerzen“, klagt der 19-jährige Ali aus | |
Shenshayba, den es am schlimmsten erwischt hat. „Ich habe mein Leben | |
verkauft“, sagt er. Nach der Operation zur Organentnahme habe ihn kein Arzt | |
besucht, schimpft er. Und zu uns Ausländern sagt er: „Ihr wolltet nur | |
unsere Nieren.“ | |
15 Aug 2022 | |
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[3] /Frauenrechte-in-Afghanistan/!5871619 | |
[4] http://www.loqmanhakimhospital.com/language/en/ | |
[5] https://www.nytimes.com/2021/02/06/world/asia/selling-buying-kidneys-afghan… | |
## AUTOREN | |
Francesca Borri | |
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