| # taz.de -- Ersatz für Maus und Ratte | |
| > Mini-Organe, sogenannte Organoide, sollen Tierversuche überflüssig | |
| > machen. Die Erwartungen sind riesig. Doch die Methode ist kein | |
| > Allheilmittel. Und sie bringt neue Probleme mit sich | |
| Bild: Kein Fell, keine Ohren – trotzdem kann ein solcher Organ-on-a-Chip eine… | |
| Von Kathrin Burger | |
| Es sieht fast aus wie eine durchsichtige Musikkassette aus den 1980er | |
| Jahren. Doch das Ding mit dem Retro-Look ist High-Tech. Und es kann heute | |
| schon einige Tierversuche obsolet machen. Die Rede ist von Organoiden, also | |
| Mini-Organen, die gemeinsam auf einem Mikrochip platziert werden. | |
| Organ-on-a-Chip heißt das Ganze. | |
| Tierversuche mag eigentlich niemand. Dennoch mussten im Jahr 2021 allein in | |
| Deutschland 1,9 Millionen Tiere mehr oder weniger belastende Experimente | |
| über sich ergehen lassen. [1][Wie notwendig solche Versuche sind, ist | |
| umstritten]. Einig ist man sich nur darin, dass so schnell wie möglich | |
| alternative Tests hermüssen. | |
| „Das ist einerseits aus ethischer Sicht notwendig“, sagt Sina Bartfeld, | |
| Infektionsbiologin und Organoid-Expertin an der TU Berlin. Andererseits | |
| böten Methoden wie die Nutzung von Organoiden auch inhaltliche Vorteile. | |
| „Denn oft sind Pharmafirmen und Wissenschaftler unzufrieden mit der | |
| Vorhersagekraft von Tierversuchen für menschliche Reaktionen“, so Bartfeld. | |
| Eine Maus sei eben kein kleiner Mensch. „Zum Beispiel gibt es viele | |
| Infektionserreger, die mit menschlichen Zellen anders interagieren als mit | |
| Mauszellen.“ | |
| Bei der Organoid-Technik kommen menschliche Stammzellen zum Einsatz. | |
| Umspült von einem Nährmedium wachsen sie bei wohligen 37 Grad zu immer | |
| größeren dreidimensionalen Zellstrukturen und bilden auch unterschiedliche | |
| Zelltypen aus. Organoide kommen darum im Aussehen aber auch in ihrer | |
| Funktionsweise dem Originalgewebe sehr nahe. An diesen Modellen können nun | |
| zum Beispiel Gene an- oder abgeschaltet werden, um zu verstehen, was sie | |
| codieren, oder andere physiologische Prozesse erforscht werden. | |
| Der niederländische Wissenschaftler Hans Clevers vom Hubrecht Institute ist | |
| einer der Väter der Organoidforschung. Im Jahr 2009 hat er gemeinsam mit | |
| dem japanischen Forscher Toshiro Sato eine wegweisende Studie zu | |
| Darmorganoiden veröffentlicht. Heute gilt er als aussichtsreicher Kandidat | |
| für den Nobelpreis. Er sieht Organoide als Vorstufe vor Tierversuchen in | |
| der Medikamentenforschung: „Das allein würde die Anzahl an Experimenten vor | |
| allem mit Ratten und Mäusen drastisch reduzieren“, so Clevers gegenüber der | |
| Informationsplattform „Tierversuche verstehen“. | |
| „In der Grundlagenforschung ist bereits ein wahrer Hype um Organoide | |
| ausgebrochen“, bestätigt Infektionsbiologin Bartfeld. „Immer mehr Labore | |
| verwenden die Technologie.“ So arbeiten etwa Schweizer Forscher mit | |
| Minidärmen, die so gestaltet wurden, dass sie sogar die schlauch- und | |
| zottenähnlichen Formen der lebenden Organismen nachbilden. Hier kann man | |
| beobachten, wie Bakterien mit den Darmzellen interagieren – quasi eine | |
| Live-Schalte zur Mikrobiomentstehung. In Organoiden können aber auch neu | |
| entwickelte Arzneimittelkandidaten daraufhin untersucht werden, welche | |
| Wirkungen – und welche Nebenwirkungen – sie haben. | |
| Das heißt: Organoide können künftig beispielsweise bei den vorgeschriebenen | |
| Toxizitätsprüfungen von Medikamenten oder neuen Pestiziden Tierversuche | |
| sinnvoll ersetzen. „Auch hier ist die Vorhersagekraft der Tierversuche für | |
| menschliche Reaktionen oft nicht zufriedenstellend“, sagt Bartfeld. So sind | |
| beispielsweise 4 von 5 Arzneimittelkandidaten im Tierversuch wirksam, in | |
| der klinischen Studie mit Patienten dann aber ein Flop. | |
| Laut Peter Loskill vom Fraunhofer-Institut für Grenzflächen und | |
| Bioverfahrenstechnik haben Pharmafirmen großes Interesse an | |
| Organoidsystemen, da sie in so vielen Bereichen eingesetzt werden könnten. | |
| Als offizieller Test ist aber noch kein solches System zugelassen. | |
| Belastbare Zahlen darüber, wie viele Tierversuche heute schon durch diese | |
| Alternative ersetzt werden, gibt es noch nicht. Es sind auf jeden Fall noch | |
| nicht so viele, dass sich die Anzahl der Experimente mit Tieren | |
| substanziell verringert hätte. Vielmehr stagnieren die Zahlen seit Jahren | |
| auf einem hohen Niveau. | |
| Einen Quantensprung könnte vielleicht die Entwicklung von automatisierten | |
| Verfahren mit sich bringen, mit denen eine große Anzahl an Organoiden | |
| erstellt werden kann. Das wäre wichtig, weil zum Beispiel bei | |
| Medikamententests viele Hundert Versuchstiere nötig sind, um signifikante | |
| Aussagen treffen zu können. Forscher des Max-Planck-Instituts für | |
| molekulare Biomedizin in Münster haben ein solches automatisiertes | |
| Verfahren entwickelt, durch das Hirnorganoide standardisiert werden. Und | |
| sie haben dafür den Tierschutzforschungspreis 2021 vom Agrarministerium | |
| erhalten (BMEL). Bei dem System erzeugen Pipettier-Roboter die | |
| Organoidkeimlinge in großer Anzahl. Üblich ist bislang, dass Organoide in | |
| Handarbeit angelegt werden. | |
| Gerade die neurologische Forschung hat einen hohen Bedarf an | |
| Versuchstieren, wobei ihre Versuchsanlagen oft stark belastend sind. | |
| Hirnorganoide könnten nun Erkenntnisse über die Funktionsweise von | |
| Nervenzellen liefern und helfen, Medikamente gegen Alzheimer, Autismus oder | |
| Parkinson zu entwickeln. Laut BMEL würde das neue System hierbei bis zu 10 | |
| Prozent weniger Tierversuche erforderlich machen. Neben Hirn- und | |
| Darmorganoiden gibt es mittlerweile auch Minimodelle von Leber, Niere, | |
| Magen, Pankreas, Lunge, Prostata, Speiseröhre, Gallenblase, Netzhaut, | |
| weiblichen Geschlechtsorganen sowie des Embryos. | |
| Doch es gibt auch Skeptiker. So sagt etwa Silke Kohlstädt vom Deutschen | |
| Krebsforschungszentrum (DKFZ): „Die Annahme, dass mit Zellkulturen oder | |
| Organoiden eine bessere Vorhersage über die Wirkung und Nebenwirkungen | |
| eines neuen Medikaments liefern würden, ist nicht nur unbewiesen, sondern | |
| auch illusorisch.“ Zu komplex seien die zellulären Wechselwirkungen im | |
| Gesamtorganismus. „So sind beispielsweise mutierte Blutstammzellen nicht | |
| nur Vorläufer von Blutkrebs, sie erhöhen auch die Häufigkeit von | |
| Herzinfarkten und Schlaganfällen stark. Darüber hinaus haben sie einen | |
| Einfluss auf die Alzheimer’sche Erkrankung“, so Kohlstädt. Tatsächlich wi… | |
| die Frage nach der Übertragbarkeit und wie man diese verbessern kann heiß | |
| diskutiert. | |
| „Ich schätze, es wird in den nächsten 10 Jahren noch viel komplexere | |
| Organoide geben, mit Immunsystem, Blutgefäßen oder Nerven“, sagt Clevers | |
| vom Hubrecht Institute. An solchen Organs-on-a-Chip arbeitet das Berliner | |
| Biotech-Unternehmen TissUse. Das Ziel: bis zu 11 Organe auf einem Chip | |
| anzuordnen und sie mit Blut- und Nervenbahnen zu verbinden. Bei TissUse | |
| wurde bereits ein Chip entwickelt, auf dem 4 unterschiedliche Organsysteme | |
| gekoppelt sind. | |
| Auch Bartfeld kooperiert mit der Firma, die weltweiter Marktführer in | |
| Sachen Multi-Organ-Chips ist. „Gerade in der Verschaltung der Organe über | |
| die Mikrofluidik, also über minikleine Kanäle, die ein Blutsystem | |
| simulieren, liegt das Potenzial, die Interaktion von verschiedenen Organen | |
| zu untersuchen“, sagt Bartfeld. | |
| Tatsächlich war anfangs die Euphorie so groß, dass einige Forscher hofften, | |
| mit der neuen Technik könnten Tierversuche irgendwann ganz abgeschafft | |
| werden. „Ich glaube, dass die Organoidtechnologie Tierversuche in vielen | |
| Bereichen ersetzen wird. Aber Tierversuche werden immer das letzte | |
| Beweisstück bleiben“, sagt Clevers. Es gebe Bereiche, bei denen Organoide | |
| schlicht keine Alternative seien – etwa in Teilbereichen der | |
| Covidforschung. So haben mehrere europäische Forscher im September 2020 | |
| einen Essay mit dem Titel [2][„How the COVID-19 pandemic highlights the | |
| necessity of animal research“] veröffentlicht. Laut den Forschenden könnten | |
| Übertragungswege oder auch die Frage, wie sich die Immunität nach einer | |
| Infektion oder Impfung entwickelt, nicht in Ersatzverfahren erforscht | |
| werden. Auch antivirale Arzneien seien nicht ohne Tierversuche zu haben. | |
| Kopfzerbrechen bereiten auch Hirnorganoide. Hier stellen sich nämlich zu | |
| allen anderen auch ethische Fragen. Schon 2018 forderten Forscher in der | |
| Fachzeitschrift Nature eine Debatte. Es sei schließlich möglich, dass die | |
| immer komplexer werdenden Hirnorganoide Bewusstsein und Denkfähigkeit | |
| entwickeln, Freude, Schmerz oder Distress empfinden. In einer Stellungnahme | |
| der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina werden derzeit | |
| ethische und rechtliche Fragen zusammengestellt. Diese Stellungnahme wird | |
| voraussichtlich im Sommer veröffentlicht. | |
| An der Stellungnahme arbeitet auch der Stammzellforscher Jürgen Knoblich | |
| mit, in dessen Labor im Jahr 2013 das erste Hirnorganoid entstand. „Was das | |
| Bewusstsein braucht, sind Verbindungen über lange Regionen in unserem | |
| Gehirn, und die habe ich in einem Organoid nicht“, sagt Knoblich in einem | |
| Interview für die Gesundheitsplattform medinlive.at. Er hält darum die | |
| Gefahr, dass ein Organoid ein Bewusstsein entwickelt, für sehr | |
| unwahrscheinlich. | |
| 30 Apr 2022 | |
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| [1] /Zukunft-der-Tierversuche/!5821236&s=tierversuche/ | |
| [2] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0960982220311842 | |
| ## AUTOREN | |
| Kathrin Burger | |
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