# taz.de -- Zeug*innen zuhören | |
> Hassverbrechen auf den Grund zu gehen: Das ist ein Bedürfnis der | |
> Überlebenden von Anschlägen. Ein Abend in Lichtenberg griff das auf | |
Von Philipp Weichenrieder | |
Am Ende wirkt es beinahe, als sei die Ermächtigung größer als das Trauma. | |
Die Folgen des Mordanschlags aber bleiben – körperlich, psychisch. Auch das | |
wurde in den Worten von Anastassia Pletoukhina und Valentin Velvel Lutset | |
am Dienstagabend klar. Die Fach- und Netzwerkstelle Licht-Blicke, Aktiv in | |
Lichtenberg e. V. und der Antisemitismusbeauftragte des Bezirks | |
Lichtenberg, André Wartmann, hatten zu einer Veranstaltung in die | |
blue:boks Berlin in Lichtenberg eingeladen, in der Erfahrungen von | |
Überlebenden des Anschlags vom 9. Oktober 2019 in Halle (Saale) im Zentrum | |
standen. | |
Anregung und Titel zu der Veranstaltung gab das Buch „Hab keine Angst, | |
erzähl alles! Das Attentat von Halle und die Stimmen der Überlebenden“, das | |
im Herbst erschienen ist. Die Herausgeberin Esther Dischereit sammelte | |
Texte, die im Rahmen des Prozesses entstanden sind – Zeug*innen-Aussagen im | |
Gerichtssaal, Wortmeldungen von Betroffenen bei Kundgebungen, | |
Stellungnahmen von Expert*innen im Prozess. Auf dem Podium dieser ersten | |
Veranstaltung zum Buch in Berlin saßen neben André Wartmann, der die | |
Moderation übernahm, und Esther Dischereit auch die beiden Zeug*innen und | |
Überlebenden des Anschlags, Anastassia Pletoukhina und Valentin Velvel | |
Lutset. | |
Der Täter, der am 9. Oktober 2019 vorhatte, jüdische Menschen zu ermorden, | |
der Jana L. und Kevin S. erschoss und weitere Menschen traumatisierte und | |
teils schwer verletzte, wurde am 21. Dezember 2020 zu lebenslanger | |
Freiheitsstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Es | |
wirkt wie Gerechtigkeit. Die Gefühle, die Nebenkläger*innen in ihren | |
Schlussworten des Prozesses ausdrückten und die auch am Dienstagabend | |
auftauchen, zeigen etwas anderes. Der Drang von Justiz und Behörden, das | |
Ganze möglichst schnell hinter sich zu bringen, wie es von Betroffenen | |
empfunden wurde, stand ihrem Anliegen entgegen, der menschenfeindlichen | |
Ideologie des Täters, die Rassismus, Antisemitismus, Misogynie verbindet, | |
und der Bedeutung einer weltweiten Verbindung zwischen Hassverbrechen und | |
von Online-Radikalisierung auf den Grund zu gehen. | |
Anastassia Pletoukhina und Valentin Velvel Lutset wiederholten nicht das | |
Gedruckte aus „Hab keine Angst, erzähl alles! Das Attentat von Halle und | |
die Stimmen der Überlebenden“. Es war ihnen überlassen, was sie mit den | |
rund 30 Besucher*innen teilen wollten. Esther Dischereit, die ihre | |
Rolle als jüdische Prozessbeobachterin beschrieb, betonte, wie besonders es | |
sei, dass es Betroffene geschafft hatten, sich im Prozess den Raum zu | |
nehmen, Zeugnisse zu geben über die weitreichenden Folgen des Anschlags für | |
ihre Leben, die über nüchterne Ermittlungsfragen hinausgingen. Für viele, | |
die den Anschlag erlebt haben, sei es eine Herausforderung gewesen, in den | |
Gerichtssaal zu gehen und das Erfahrene im Erzählen erneut zu durchleben. | |
Valentin Velvel Lutset habe sich erst nicht getraut, sagte er. Anastassia | |
Pletoukhina sagte, dass der Prozess für sie traumatischer gewesen sei als | |
der Anschlag selbst. Und doch sei er auch gut und ermächtigend gewesen, | |
auch, weil Betroffene über den Gerichtssaal hinaus berichteten, laut waren. | |
Es ist wichtig, diese Botschaft zog sich durch den Abend, Zeugnisse hörbar | |
zu machen, zu bewahren und zu verstärken – wie es im Prozess gemacht wurde, | |
was von zivilgesellschaftlichen Organisationen online und von Dischereit im | |
Buch veröffentlicht wurde. Die Worte der Zeug*innen sind da, | |
dankenswerterweise auch bei solchen Veranstaltungen wie am Dienstagabend in | |
Lichtenberg. Wir müssen sie als Gesellschaft hören und uns ihnen stellen. | |
7 Apr 2022 | |
## AUTOREN | |
Philipp Weichenrieder | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |