# taz.de -- Schlüsselproblem Dunkelziffer | |
> Karl Heinz Roth hat die erste Gesamtdarstellung des Pandemieverlaufs | |
> vorgelegt und möchte auf Defizite in der Pandemiebekämpfung hinweisen | |
Von Rudolf Walther | |
Es gibt gute Gründe, zu dem Thema Pandemie nur noch resigniert zu | |
schweigen. Da türmt sich ein Gebirge von Eitelkeiten und Peinlichkeiten | |
auf, neben dem selbst die Interventionen des profilsüchtigen Schwadroneurs | |
aus der bayerischen Staatskanzlei verblassen. Das 500 Seiten starke Buch | |
von Karl Heinz Roth, „Blinde Passagiere. Die Coronakrise und ihre Folgen“ | |
im Antje Kunstmann Verlag, hat mit jener Zeitgeist- und Schwurbelprosa | |
nichts zu tun. Dafür bürgt die Doppelqualifikation des Autors als Arzt und | |
Sozialwissenschaftler, der weiß, wovon er redet, wenn es um Seuchen geht, | |
seit er als Hausarzt an einem sozialen Brennpunkt mit HIV-Infizierten zu | |
tun hatte. | |
Da es sich auch bei Corona um eine Seuche mit sozialen, wirtschaftlichen, | |
kulturellen und psychologischen Dimensionen handelt, erscheint eine | |
einfache Strategie, die diese Komplexität ausblendet, von vornherein | |
aussichtslos. | |
Den Vergleich der Coronapandemie mit der Pest im Spätmittelalter und der | |
großen Grippe-Epidemie am Ende des Ersten Weltkriegs hält Roth in | |
mehrfacher Hinsicht für unzulässig, denn der Pesterreger stammt wie der von | |
Corona aus der Tierwelt, während der Erreger der „Spanischen Grippe“ zwar | |
aus der Schweinezucht stammt, aber für die Grippe nur Menschen als | |
Infektionsquelle in Frage kommen. Während die Pest für alle Infizierten | |
tödlich verlief, betrug die Mortalitätsquote bei der Grippe höchstens 25 | |
Prozent. | |
Die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Pesterregers war gering (3–5 km/h), | |
während sich das Grippevirus im Tempo der Kriegsschiffflotten (15–60 km/h) | |
ausbreitete. Das Coronavirus wiederum breitet sich heute mit der | |
Geschwindigkeit und Reichweite von Düsenflugzeugen aus. Mit dem | |
Coronavirus ist deshalb „weltweit jederzeit zu rechnen“. | |
Roths Studie stützt sich außer auf die epidemiologische Standardliteratur | |
auf die acht Regalmeter umfassende Sammlung aktueller internationaler | |
Fachliteratur (Studien, Positionspapiere und Gutachten der führenden | |
Forschungsinstitute und Experten) zum Covid-19-Virus und die von diesem | |
ausgelöste weltweite Pandemie, deren Verlauf Roth anhand der Papiere im | |
Archiv der von ihm gegründeten „Stiftung für Sozialgeschichte des 20. | |
Jahrhunderts“ gesammelt wurde, präzis nachzeichnet und dabei auch die | |
ökonomischen Veränderungen im Gesundhheitswesen sowie die Auswirkungen der | |
Pandemie auf die ganze Weltwirtschaft analysiert. | |
Das Buch bietet eine erste Gesamtdarstellung des Pandemieverlaufs, seiner | |
Voraussetzungen und Folgen. Allein die Sicherung des Quellenbestandes für | |
die zukünftige Forschung im Archiv der Stiftung ist eine lobenswerte | |
Pionierleistung. | |
Lange übersehene oder in ihrer Wirkung unterschätzte Besonderheiten | |
erschwerten die Analyse des Pandemiegeschehens, seiner wirksamen Bekämpfung | |
und seiner Entwicklung beträchtlich. Das Coronavirus ist kein Killer-Virus, | |
sondern wirkt sehr komplex und selektiv. Auch zwei Jahre nach Beginn der | |
Pandemie ist „die Übertragung der Zoonose Covid-19, d. h. die Übertragung | |
des Virus vom Tierreich auf den Menschen“, nicht restlos geklärt. | |
Ein Schlüsselproblem für die Forschung und vor allem für die Bekämpfung der | |
Pandemie bietet die große Dunkelziffer bei der Übertragung des Virus, denn | |
rund die Hälfte der Infizierten trägt keine Symptome einer Infektion, das | |
heißt, das Virus „konnte sich weitgehend unbemerkt ausbreiten“ wie ein | |
blinder Passagier auf dem Schiff der Zeitgeschichte: wenn er entdeckt | |
wurde, war es oft schon zu spät, um den Ort und die Zeit zu ermitteln, an | |
denen er an Bord kam, um die Infektionsketten zu verfolgen. | |
Hinzu kommt eine unbekannte Zahl von infizierten Passagieren, was – im | |
Gegensatz zu medial vermittelten Eindrücken – jede empirisch belastbare, | |
statistische Aussage über die Entwicklung der Pandemie illusorisch oder zum | |
Hazardspiel macht. | |
Roths Fazit: „Die tatsächliche Inzidenz des Pandemiegeschehens und das aus | |
ihr ablesbare Ausmaß und Tempo der Zirkulation des Erregers in der | |
Bevölkerung kennt niemand.“ | |
Für alle verfügbaren Daten gilt, dass die „Dunkelziffern das | |
Schlüsselproblem“ darstellen. Das Problem wäre nur mit Massentests zu | |
bewältigen, denen jedoch außer in China überall massive politische und | |
juristische Hürden entgegenstehen. Gesichert ist nur, dass das Grippevirus | |
eher junge Menschen, das Coronavirus dagegen überwiegend ältere Leute | |
befällt. 74–86 Prozent der über 20- bis 70-Jährigen erkranken; Frauen | |
häufiger als Männer. Schutzmaßnahmen für diese sozialen Gruppen sind zwar | |
sehr wirksam, wurden aber vielerorts lange vernachlässigt, was zu einem | |
Massensterben in Alters- und Behindertenheimen führte. Zu den weiteren | |
Besonderheiten der Pandemie gehört, dass das Mobilitätsniveau die | |
Ausbreitung des Virus ebenso begünstigt wie die Intensität sozialer | |
Kontakte, die die Infektion „sprunghaft“ beschleunigt. | |
Besonders gefährdet sind außerdem gesundheitlich Geschädigte und durch | |
Übergewicht, Diabetes oder Herz-Kreislauf belastete Personen sowie arme | |
ethnische Minderheiten in prekären Wohnverhältnissen. Bei einer | |
Inkubationszeit von 5–6, aber bis zu 14 Tagen sind Infizierte aber schon | |
1–2 Tage vor der Erkrankung ansteckend und bleiben es für 7 Tage. Was die | |
Tödlichkeit des Coronavirus betrifft, so erreichte es nur im Falle | |
chronisch kranker alter Leute das katastrophale Ausmaß der Spanischen | |
Grippe von 1918/20, als 5,7–10 Prozent der Infizierten starben. | |
Man würde den Autor allerdings missverstehen, wenn man solche Aussagen als | |
Beruhigungspillen über den Verlauf der Pandemiebekämpfung durch die | |
nationalen Regierungen interpretierte. Derlei liegt Roth völlig fern, denn | |
es geht ihm über weite Strecken des Buches um den Nachweis der Fehler, | |
Defizite und Versäumnisse der Pandemiebekämpfung auf dem vermeintlichen | |
Königsweg der Anordnung mehr oder weniger rigider Regeln für die Lockdowns. | |
Fast überall in der Welt bekam der „grobe Klotz des Lockdowns den Vorzug | |
vor moderaten Präventionskonzepten“, wie sie nach dem Ausbruch der Pandemie | |
in den ost- und südasiatischen Nachbarstaaten Chinas (Taiwan, Singapur, | |
Südkorea, Japan, Vietnam) realisiert wurden und sich bewährten. Diese | |
Staaten folgten weder der schnell gescheiterten Vertuschungsstrategie noch | |
der autoritär-diktatorischen Nachfolgevariante Chinas bei der | |
Pandemiebekämpfung, sondern besannen sich auf die Erfahrungen und Lehren | |
mit der Sars-Pandemie von 2002/03 und der Mers-Pandemie seit 2012. | |
Damals war es mit moderaten Präventions- und Kotrollmaßnahmen gelungen, der | |
Ausbreitung der Pandemie mit Hilfe der WHO Grenzen zu setzen. Dieser Erfolg | |
wurde in den Aufbau leistungsfähiger nationaler Präventionsmaßnahmen | |
umgesetzt, auf den die Länder Jahre später angesichts der Coronakrise | |
zurückgreifen konnten, um der drohenden Krise zu trotzen, ohne auf | |
diktatorische Maßnahmen oder Lockdowns zu setzen. | |
Die von den südostasiatischen Staaten angelegten Vorräte an | |
Schutzkleidungen und Desinfektionsmitteln erwiesen sich als eine klügere | |
und effizientere Politik als rigide Lockdown-Maßnahmen. Es ist eine | |
Trivialität, dass jede Lockdown-Maßnahme irgendwann irgendetwas bewirkt. | |
Schwer zu sagen ist allerdings vorab, was wo bewirkt wird durch behördliche | |
Regeln. Roth ist kein prinzipieller Gegner von Lockdowns, kritisiert jedoch | |
die panikartige Einführung des Mittels als vermeintliches Allheilmittel und | |
verweist auf Untiefen und Inkonsequenzen der lange dominierenden | |
Lockdown-Ideologie. | |
Karl Heinz Roth:„Blinde Passagiere. Die Corona-Krise und ihre Folgen“. | |
Kunstmann Verlag, München 2022, 30 Euro, 480 Seiten | |
22 Mar 2022 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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