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# taz.de -- Vom Standpunkt der Katastrophe
> Die „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer
> ist ein Jahrhundertbuch. Martin Mittelmeier untersucht mit „Freiheit und
> Finsternis“ dessen Genesis und Geltung
Bild: Späterhin Klassiker: Max Horkheimer (1895–1973) und Theodor W. Adorno …
Von Jörg Später
Äußerlich betrachtet ist die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheim…
und Theodor W. Adorno ein Klassiker. Es ist das nachhaltigste Werk aus dem
Zusammenhang der Frankfurter Sozialphilosophie, die während des
Nationalsozialismus Zuflucht in New York und Los Angeles gefunden hatte.
Das Buch ist zeitlich so weit entfernt von heute wie es selbst zum
Zeitpunkt seines Entstehens von Karl Marx’ „Das Kapital“. Es entstand im
Schatten von Auschwitz. Die Vernichtung der Juden in Europa wird zwar
nirgendwo direkt benannt, doch ist sie überall gegenwärtig. Die Autoren
nahmen sie als historische Zäsur wahr, nach der nichts mehr so ist wie
zuvor, inklusive das eigene Denken. Die „philosophischen Fragmente“ – wie
der folgerichtige Untertitel lautet – sind ein Jahrhundertbuch geworden,
dessen Genesis und Geltung Martin Mittelmeier zu rekonstruieren verspricht.
Innerlich betrachtet ist die „Dialektik der Aufklärung“ eine sonderbare
Schrift. Das liegt nicht nur am Fragmentarischen. Vielmehr ist das
Leseerlebnis von Zwiespalt geprägt: Dieses Buch ist schwer zu fassen – man
versuche nur mal in dem Kapitel „Begriff der Aufklärung“ die wichtigsten
Stellen zu unterstreichen oder es in Abschnitte einzuteilen. Und doch hat
jeder Satz eine ungeheure Sogkraft, eine ästhetische Wirkung. Die Autoren
bauen keine Argumentation auf, sondern variieren die immer gleiche These:
dass bereits der Mythos Aufklärung ist und Aufklärung in Mythologie
zurückschlägt. Die Sätze sind apodiktisch, und doch entsteht der Eindruck
hoher Plausibilität. Die geschichtsphilosophische Erzählung ist maßlos in
ihrer Reichweite, aber es gibt darin kein unnützes Wort. Mittelmeier fragt
sich, warum das so ist.
Seine äußerliche historische Rekonstruktion erfolgt im Plauderton.
Kritische Theorie zu erzählen, ist gewagt, muss aber nicht zwangsläufig
scheitern, solange der Interpret nicht lax wird. Das ist dem Autor
keinesfalls vorzuwerfen, aber doch übertreibt er es mit der Annekdoterei,
den Montagen, Sprüngen und Spekulationen. Immer dann, wenn das Tempus vom
gediegenen Präteritum ins aufdringliche Präsens wechselt, wird es
Spiegel-like. Manche Überschriften sind wie Warnschilder für
Actionphilosophie: „Philosophen am Rande des Nervenzusammenbruchs“, „Angst
essen Aufklärung auf“, „Am Grauen vorbeidefilieren“. Andere erzeugen
schlicht Stirnfalten: „Kreuzchen mit Gummistempel“, „Gib’s auf! Halte
stand!“, „Atome atomisiert“.
Die Reise ins Innere der „Dialektik der Aufklärung“ birgt hingegen
erstaunliche Einsichten. Mittelmeier glänzt im Dechiffrieren der
Rätselhaftigkeit dieser Schrift. So ist ihm aufgefallen, dass jeder, der
versucht, einem interessierten Mitmenschen die Gedanken des Buches zu
vermitteln, feststellt, wie schnell man ins bloße Nachbeten kommt und wie
dürftig die Argumentation ist, obwohl man von dem Gefühl völliger
Schlüssigkeit durchdrungen ist. Das liege an der Inszenierung, sagt
Mittelmeier, der überdies nicht bloß behauptet, dass Adorno seine Texte
durchkomponiert hat wie Musikstücke, sondern es auch aufzeigt: In jedem
einzelnen Abschnitt des Essays über den Begriff der Aufklärung zum Beispiel
sei das dialektische Bild von der Verschränktheit von Mythos und Aufklärung
präsent und in der Mitte zentriert. Solches Close Reading legt nahe, den
Klassiker nicht zu lesen wie andere Texte, sondern ihn zu begehen wie einer
Installation, in der alles gleichzeitig zu sehen ist. Die Kraft dieses
Jahrhundertbuchs beruht demnach auf der Performance eines dialektischen
Bildes, also auf der Form.
Auf der interpretatorischen Ebene sind zwei von Mittelmeiers Thesen
strittig. Zum einen die durchaus gängige, dass diese tiefschwarze Schrift
eine Abkehr von der Gesellschaftskritik à la Marx bedeutete – hin zu einer
Urgeschichte und Genealogie der Gewalt. Gewiss, eine
geschichtsphilosophische Konstruktion, die einen Urfehler in der
Menschheitsgeschichte sucht, bewegt sich auf einem anderen Boden als die
Kritik der politischen Ökonomie. Diese muss damit aber nicht hinfällig
geworden sein.
Auch wenn die „Dialektik der Aufklärung“ der Versuch ist, den
„Zivilisationsbruch“ von Auschwitz philosophisch zu erfassen, und das
Marx’sche Besteck dafür als nicht ausreichend erachtet, sind deren Autoren
doch weiter mit der materialistischen Gesellschaftskritik verbunden. Die
„Dialektik der Aufklärung“ sollte die Urgeschichte der kapitalistischen
Gesellschaft sein, aus der die Nazi-Barbarei entwachsen sei, die aber
wiederum nicht mehr mit einer Kritik des Kapitalismus zu fassen ist. Kein
Abschied von Marx also, aber eine neue Perspektive auf die
Gattungsgeschichte vom Standpunkt der Katastrophe aus.
Zum anderen ist Mittelmeiers Idee verwunderlich, der Holocaust sei in
Adornos angeblicher Erlösungsphilosophie wie eine Kippfigur zwischen
Himmel und Hölle eingegangen. Die Leichenberge als letzte Etappe vor dem
Übergang in eine menschliche Gesellschaft? Nein, eine solche Dialektik von
Hölle und Himmel gibt es bei Adorno nicht!
Mittelmeiers großes Verdienst liegt darin, die „Dialektik der Aufklärung“
als ein Sprachkunstwerk auszuweisen und ihre Komposition zu dechiffrieren.
Über die Genesis des Buches erfahren wir manch Überraschendes, doch wirken
die Geschichten rund um das Buch oft allzu konstruiert. Über die
historischen Gründe der Geltung des Klassikers, der ja erst 20 Jahre später
zu einem wurde, erfahren wir wenig.
Eine „Sternstunde der Philosophie“, wie der Siedler Verlag angibt, ist
Mittelmeiers „Freiheit und Finsternis“ eher nicht. Aber es besticht mit
manch klugen Einsichten.
Martin Mittelmeier: „Freiheit und Finsternis. Wie die ‚Dialektik der
Aufklärung‘ zum Jahrhundertbuch wurde“. Siedler Verlag, München 2021, 321
Seiten, 24 Euro
4 Mar 2022
## AUTOREN
Jörg Später
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