# taz.de -- nordđŸthema: âDas Neue ist Schmerzâ | |
> In der Schule war Anja Wolf verunsichert, wenn es keine SchlÀge gab. | |
> Heute unterrichtet sie andere Frauen* in Selbstverteidigung. Sie erklÀrt, | |
> wie Wing-Tsun im Alltag stÀrkt | |
Interview Selma Hornbacher-Schönleber | |
taz: Frau Wolf, wie sind Sie Wing-Tsun-Lehrerin geworden? | |
Anja Wolf: Ich bin als Kind in ein kleines Dorf nahe Chemnitz gezogen. In | |
der Schule war ich der Eindringling von auĂen, und das hat mich die Gruppe | |
immer spĂŒren lassen. Ich habe dort wirklich alles an Gewalt erlebt, | |
körperlich und psychisch. SpÀter in meiner Ausbildung war der Chef | |
schwierig. Auch in meiner Ehe, in die ich mit 20 gegangen bin, war Dominanz | |
ein Thema. Daraus konnte ich mich mit 22 emotional befreien. Da war mir | |
klar: Entweder ich gehe daran kaputt, oder ich muss etwas verÀndern. | |
Und so kamen Sie zum Kampfsport? | |
Ich bin damals oft an einer Kung-Fu-Schule vorbeigefahren und habe immer | |
gedacht: Irgendwann gehst du da hin. Nur der Schritt, wirklich zu gehen, | |
das Telefon in die Hand zu nehmen und mich anzumelden â der ist nicht | |
passiert. Und irgendwann habe ich es doch geschafft, bin zurĂŒck zu meinen | |
Eltern gezogen und habe dann jemanden aus Hamburg kennengelernt. Wie der | |
Zufall es so wollte, hat die Person Wing-Tsun gemacht. Das war dann der | |
SchlĂŒsselmoment, der Tritt von auĂen. | |
Und als Sie nach Hamburg gezogen sind, wurde es besser? | |
Ich bin nicht nach Hamburg gekommen und war plötzlich selbstbewusst, stark | |
und konnte meine Grenzen aufzeigen. Anfangs habe ich mich kaum getraut, | |
mich hier zu bewegen, selbst Bahn zu fahren. Durch die Arbeit mit der | |
Kampfkunst konnte ich einen riesigen Entwicklungsschritt gehen, das sehe | |
ich heute. Seit ich weiĂ, ich kann das anwenden, wenn ich es brauche, habe | |
ich ein viel klareres Auftreten. | |
Also geht es um das selbstbewusste Auftreten? | |
Ja. Wenn ich immer gelernt habe einzustecken, die Klappe zu halten, dass | |
ich es nicht wert bin und dass auch keiner eingreift â dann nehme ich das | |
Verhalten mit ins Erwachsenenalter. Das zeigte sich in meiner | |
Körperhaltung. Mein Muster war immer, mich so klein wie möglich zu machen | |
und genau das signalisiert TĂ€tern: Jackpot, die kann ich ansprechen! In | |
meiner Kindheit wurde so oft ĂŒber meine Grenzen hinweggetrampelt und erst | |
viel spĂ€ter habe ich gelernt zu sagen: âHier ist einfach Schluss.â In dem | |
Moment, in dem ich mich als Frau traue, mich aufzurichten und Raum | |
einzunehmen, werde ich ganz anders wahrgenommen. | |
Wie sehr spielt denn genderspezifische Sozialisierung da rein? | |
Es ist natĂŒrlich ein riesiges Sozialisierungsproblem. Immer noch viele | |
denken, MĂ€dchen sind leise und schwach, Jungs sind stark. Aber auch in | |
allen anderen Geschlechtern ist das ein Thema, dass Grenzen ĂŒberschritten | |
werden. Alle können das erleben. Es gibt â und gab schon immer â Gewalt | |
gegen MĂ€nner, auch in Beziehungen. Aber die holen sich seltener Hilfe: Die | |
Scham ist oft gröĂer als bei Frauen und gesellschaftlich wird es weniger | |
thematisiert. | |
Bekommen Sie in Ihren Selbstverteidigungskursen fĂŒr Frauen auch etwas von | |
den Herausforderungen mit, vor denen trans-Frauen stehen? | |
Eher weniger. Ich glaube, das liegt daran, dass es ein Riesenschritt ist, | |
sich Hilfe von auĂen zu holen. Da denke ich, macht es einen sehr groĂen | |
Unterschied, wie die Akzeptanz in der Gesellschaft fĂŒr dich ist und da | |
spielt wiederum Gender eine Rolle. Mir ist ganz wichtig, einen Kurs fĂŒr | |
alle Menschen zu machen, weil alle Ausgrenzungserfahrungen machen können | |
und weil es um Akzeptanz geht. | |
Aber zu Ihnen kommen mĂŒssen alle letztlich selbst. | |
Das muss die betreffende Person von innen entscheiden, das kann niemand von | |
auĂen lösen. Neben der Erkenntnis: âIch habe ein Problemâ, ist die zweite | |
groĂe HĂŒrde, sich irgendwo anzumelden, und die dritte, dort wirklich | |
hinzugehen. Auch Personen in gewalttÀtigen Beziehungen bleiben ja oft | |
jahrelang in dieser Situation. | |
Was kann es fĂŒr Betroffene leichter machen, eine solche Entscheidung zu | |
treffen? | |
In dem Moment, in dem die Person fĂŒr sich bewusst feststellt, dass es ein | |
Problem gibt, ist es wichtig zu wissen: âDie eine Richtung kenne ich, da | |
wird es nicht besser, da werde ich nicht rauskommen. Aber wenn ich | |
versuche, mich in die andere Richtung zu bewegen âŠâ | |
⊠dann gibt es zumindest die Chance, dass es besser wird. Aber wie wechselt | |
jemand die Richtung? | |
Wir bleiben oft in unglĂŒcklichen Situationen, weil wir sie kennen und uns | |
dort sicher fĂŒhlen. Ich war völlig verunsichert, wenn es keine SchlĂ€ge in | |
der Schule gab, denn ich war in der Erwartungshaltung: Irgendwann mĂŒssen | |
die kommen. Und davon konnte ich mich nicht lösen. So geht es vielen | |
Personen, die zum Beispiel in einer gewalttÀtigen Beziehung sind. Wenn du | |
diese bekannte Zone verlÀsst, ist alles neu und das Neue ist auch erst mal | |
Schmerz. Da muss man sich motivieren, sich selbst Mut machen, egal wie | |
anstrengend es ist und was unser Unterbewusstsein sagt. Alle haben das | |
Potenzial, etwas an ihrer Situation zu verÀndern. Man muss ein neues | |
Muster, eine neue Lösung erlernen. Erst wenn ich das hĂ€ufig genug geĂŒbt | |
habe, wird es ein automatischer Prozess, der zu mir gehört. | |
4 Mar 2022 | |
## AUTOREN | |
Selma Hornbacher-Schönleber | |
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