# taz.de -- Unruhiges Nomadisieren | |
> Vom Aufstand gegen den Vater zum verzweifelt Liebenden: Eine Ausgabe | |
> seiner Gedichte lädt dazu ein, den Lyriker Pasolini wiederzuentdecken | |
Von Michael Braun | |
Als Sohn eines Berufsoffiziers und einer Mutter aus dem alten kulturellen | |
Grenzgebiet Friaul wurde Pier Paolo Pasolini 1922 in Bologna geboren. Im | |
politisch aufgewühlten Westeuropa des späten 20. Jahrhunderts wurde er eine | |
große Lichtgestalt der ästhetischen und politischen Dissidenz. Aber er | |
begann als Dialektdichter mit Gedichten im friulanischen Dialekt, dem er | |
zeitlebens anhing und dessen allmähliches Verschwinden ihn schmerzte wie | |
das Verschwinden der alten bäuerlichen Welt. | |
Pasolinis Entscheidung für das Friulanische als Dichtersprache war ein | |
Aufstand gegen den eigenen Vater, einen bekennenden Faschisten. Es gehörte | |
in den 1930er Jahren zu den kulturpolitischen Zielen der Faschisten | |
Mussolinis, die Dialekte zurückzudrängen. Pasolinis Bruder Guido kam im | |
Zweiten Weltkrieg bei Kämpfen rivalisierender Partisanengruppen ums Leben; | |
er wurde von kommunistischen Fanatikern erschossen. Pasolini selbst hatte | |
sich 1947 der Kommunistischen Partei Italiens angeschlossen und wurde 1949 | |
Ortssekretär des PCI im Städtchen Casarsa im Friaul, wo er als | |
Volksschullehrer arbeitete. Im Oktober 1949 wurde er aus der Partei | |
ausgeschlossen wegen „moralischer Unwürdigkeit“. | |
Man hatte ihn denunziert wegen angeblicher homosexueller Annäherungen an | |
Schutzbefohlene. Die Anschuldigungen erwiesen sich als haltlos, aber | |
Pasolini verlor über Nacht seine Anstellung als Lehrer und sein soziales | |
Umfeld. Er zog daraufhin mit seiner über alles geliebten Mutter ins | |
Armenviertel nach Rom. | |
„Mein Realismus ist ein Liebesakt“, hat Pasolini einmal gesagt – | |
tatsächlich feiert sein Werk nicht nur den zärtlichen Liebesakt, es gibt | |
auch die mörderische sexuelle Gewalt, die unsägliche Rohheit. Dabei kann | |
man an seine Filme denken, etwa an das übermächtig werdende sexuelle | |
Begehren in „Teorema“ und die sexuellen Scheußlichkeiten in „Die 120 Tage | |
von Sodom“, aber auch an seine literarischen Liebeserklärungen an das | |
Subproletariat der Vorstädte, etwa im Roman „Ragazzi di Vita“ von 1955. Am | |
2. November 1975 wurde Pasolini bei Ostia ermordet aufgefunden, die | |
Umstände seines Todes sind bis heute nicht geklärt. | |
Einen großen Markstein zur Wiederentdeckung des Lyrikers Pasolini setzt nun | |
die zweisprachige Ausgabe mit „Späten Gedichten“, die Theresia Prammer | |
unter dem etwas verwirrenden Titel „Nach meinem Tod zu veröffentlichen“ | |
vorgelegt hat. Die Texte auf den 620 Seiten dieser sorgsam kommentierten | |
Gedichtsammlung verbindet ein immenser aufklärerischer Bekenntnisehrgeiz, | |
mit dem Pasolini seinen Weltanschauungskampf mit der Kommunistischen Partei | |
und dem katholischen Klerus zelebriert. Es sind im Wesentlichen die drei | |
Gedichtbände „La religione del mio tempo“ (1961), „Poesie in forma di ro… | |
(1964) und das wuchtige Spätwerk „Trasumanar e organizzar“ von 1971, die | |
hier in Auszügen übersetzt vorliegen. | |
Das unruhige Nomadisieren des verzweifelt Liebenden, der mit seinem | |
Dazugehörigkeitsverlangen abgewiesen wird – das ist die poetische | |
Grundfigur sehr vieler Gedichte. In den „Mondänen Gedichten“ findet dieses | |
Weltgefühl seinen prägnantesten Ausdruck: „Den ganzen Tag über arbeite ich | |
wie ein Mönch / und streife abends umher wie eine räudige Katze / auf der | |
Suche nach Liebe … Ich werde der Kurie / vorschlagen, mich | |
heiligzusprechen.“ Zu einer Heiligsprechung des Ketzers ist es natürlich | |
nie gekommen. Dafür ist das „extremistische Geschrei“ des Pier Paolo | |
Pasolini auch heute noch viel zu verstörend. | |
Pier Paolo Pasolini: „Nach meinem Tod zu veröffentlichen. Späte | |
Gedichte“,Italienisch/Deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einem | |
Nachwort versehen von Theresia Prammer.Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 632 | |
Seiten, 42 Euro | |
5 Mar 2022 | |
## AUTOREN | |
Michael Braun | |
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