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# taz.de -- nordđŸŸthema: 65 Quadratmeter Teilhabe
> An der Hamburger Dove-Elbe entsteht Deutschlands erstes
> Inklusions-Hausboot. Arnold Schnittker hat es fĂŒr seinen Sohn gebaut,
> aber offen steht es allen zum Austausch
Von Viorica Engelhardt
Es riecht an Bord nach frischem Holz. Die neue Außenverkleidung aus
sibirischer LÀrche glÀnzt goldgelb vom Regen. In der Mitte des HÀuschens
ist eine GlastĂŒr mit rotem Rahmen. Wie eine BalkontĂŒr trennt sie das Haus
von der „Achterterrasse“. Diese Terrasse ist so breit, dass man auch mit
dem Rollstuhl um die Ecke fahren kann, erklÀrt Arnold Schnittger.
Der Wind zerzaust Schnittgers weißes Haar. Er trĂ€gt einen Norwegerpulli,
Wollschal und eine senfgelbe Hose. Derzeit baut er mit freiwilligen Helfern
an diesem Hausboot. Hier entsteht „Hucky“ – das „Abenteuer“. Zu diesem
Vorhaben inspiriert wurde er von seinem Sohn Nico. Denn: Nico Schnittger
ist schwerbehindert.
In Deutschland leben fast acht Millionen schwerbehinderte Menschen. Nico
ist einer von ihnen. Seine Diagnose: Zerebralparese. Das ist eine
frĂŒhkindliche Fehlbildung im Gehirn. FĂŒr den Alltag bedeutet das: Nico kann
nicht laufen, nicht sprechen, er kann sich nicht allein waschen, anziehen
oder ernÀhren. Der 27-JÀhrige ist angewiesen auf seinen Rollstuhl und die
Hilfe anderer. Heute hat er den Pflegegrad 5 – die höchste Stufe.
Das war aber nicht immer so. Als Nico ein halbes Jahr alt war, gab es erste
kleine Anzeichen. „Wir Eltern haben uns gefragt: Warum krabbelt er nicht?“,
erzĂ€hlt sein Vater. Der Abstand zu Gleichaltrigen wurde immer grĂ¶ĂŸer. „Mit
drei Jahren konnte er weder krabbeln noch laufen. Es war klar: Da stimmt
was nicht“, sagt sein Vater. Das bestĂ€tigten dann auch die Ärzte. Hinzu
kamen Nicos geistige EinschrÀnkungen, die zu dieser Zeit zunehmend
auffielen. Er habe nicht gebrabbelt und nicht geredet. Aus Pflegegrad 1
wurde rasch die Stufe 5.
So sehr sich Nicos Leben verĂ€nderte, so gab es doch eine Konstante. „Nico
war immer eine Wasserratte“, erzĂ€hlt sein Vater. „Er fand das Wasser von
Anfang an toll. WĂ€hrend andere Kinder kreischten, hatte Nico sogar Spaß
beim Haarewaschen.“ Vom Wasser ist der Vater ebenso begeistert wie der
Sohn. Arnold Schnittger ist Segellehrer.
## Das gemeinsame Reisen fehlte
Zwanzig Jahre seien die beiden auf dem Mittelmeer „rumgekreuzt“. Zwanzig
Jahre war das gemeinsame Segeln ihr liebstes Abenteuer. Doch 2019 war
Schluss damit. „Nico ist einfach zu schwer geworden. Ihn stĂ€ndig in die
KajĂŒte zu heben und dann wieder rauf – das war ein Kraftakt. Ich konnte das
nicht mehr“, sagt der heute 70-JĂ€hrige.
Aber die gemeinsamen Reisen fehlten den beiden. „Es tat mir in der Seele
weh, dass wir nicht mehr segeln konnten. Nico ist ein großer Seemann. Wir
brauchten dringend einen Plan B.“ ZufĂ€llig habe er dann in
Mecklenburg-Vorpommern ein Bungalowboot gesehen. „Da wusste ich sofort: Das
ist es. Ich baue uns so ein Boot!“
Wie man das macht, wusste er nicht. „Aber es gibt hier in Hamburg eine
Hausbootwerft, die haben mich beraten. Am Anfang wollte ich ja auch nur ein
kleines Floß bauen und ein GartenhĂ€uschen draufsetzen.“ Doch schnell hatte
er GrĂ¶ĂŸeres vor: „Ich wollte mehr Menschen auf See mitnehmen“, sagt
Schnittger. 15 Leute sollen an Bord Platz finden. Und so ist die
„Huckleberry Finn“ heute 13 Meter lang und 5 Meter breit. Aus den 10.000
Euro wurden rasch 80.000 Euro teure PlĂ€ne – Und dank Spenden wurde das
möglich.
Drinnen stapelt sich das DĂ€mmmaterial wie Strohballen ĂŒbereinander. Kleine
und große Bretter lehnen an der Wand, daneben Werkzeug, Kartons und Seile.
Ein Heizstrahler erzeugt ein wenig WĂ€rme. Das HolzgerĂŒst lĂ€sst die
Raumaufteilung bereits erkennen: eine KĂŒche, ein barrierefreies Bad, ein
Bereich fĂŒr Schlafsofas und ein paar SchrĂ€nke – so der Plan.
## Über die Hemmschwelle
Was genau er mit dem Boot vorhabe, wenn es fertig sei? Es geht um drei
verschiedene Zwecke, erklÀrt Schnittger. Er wolle die Leute einladen, um
ihnen eine Freude zu machen. Das gelte fĂŒr Menschen mit und ohne
Behinderung, Alleinerziehende sowie pflegende Angehörige. Mit all denen
wolle er „rausschippern“.
Das zweite Ziel seien kostenlose Aktionen wie Lesungen oder gemeinsames
Kochen. Es gehe dabei explizit darum, behinderte und nicht-behinderte
Menschen zusammenzubringen, damit sie sich kennenlernen können. „Anfangs
gibt es immer eine kleine Hemmschwelle, dann starren die Leute. Nico ist ja
auch laut und sieht anders aus, weil er im Rollstuhl sitzt“, sagt
Schnittger. „Dann gehe ich hin und spreche die Leute an: ‚Das ist Nico. Der
liebe Gott hat kleine und große Menschen gemacht. Und so gibt es eben
Leute, die laufen können – und andere, die es nicht können.‘“ Die
anfÀngliche Hemmschwelle löse sich dann fast von allein.
Runde Tische einzurichten sei das dritte Ziel. „Betroffene sollen mit
Experten und Politikern zusammenkommen, damit wir ĂŒber Pflege und Inklusion
sprechen. Das geht uns alle an.“ Im MĂ€rz soll die „Hucky“ das erste Mal …
See stechen. Drei Jahre Arbeit hat sie gefordert. Aber Schnittger ist sich
des Nutzens sicher: „Inklusion ist ja ein anderes Wort fĂŒr Teilhabe. Und
Menschen, mit denen wir hier an Bord sind, die haben teil am Leben.“
11 Feb 2022
## AUTOREN
Viorica Engelhardt
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