# taz.de -- Frau Warburg sucht den sanften Weg des Ausgleichs | |
> An der Seite des epochalen Kunsthistorikers Aby Warburg schuf seine Frau | |
> Mary Gemälde und Plastiken. Eine Ausstellung erkundet ihr Werk | |
Bild: Hübsch, aber ohne erkennbares Interesse am Experiment: Mary Warburgs Bli… | |
Von Falk Schreiber | |
Natürlich lesen die Kinder. Sie können kaum krabbeln, aber lesen müssen | |
sie, auf Bildern wie der Bleistiftzeichnung „Bildnis Marietta Warburg vor | |
einem Bücherstapel“ (1900), die die damals einjährige Tochter von Mary | |
Warburg zeigt. Das Bild ist nicht idealisierend, es zeigt ein etwas | |
pummeliges, etwas traurig blickendes Mädchen mit zerzaustem Haar, aber es | |
ist ein Mädchen, das nicht spielt, es ist ein Mädchen, das liest. | |
Natürlich. | |
An der Ausstellung „Auf Augenblicke frei und glücklich“ im Hamburger Ernst | |
Barlach Haus, der ersten großen Überblicksschau zu Mary Warburg (1866–1934) | |
überhaupt, lässt sich einiges zeigen. Einerseits, wie eine Künstlerin ein | |
ganzes Jahrhundert lang zum Verschwinden gebracht werden konnte, immer im | |
Schatten ihres übermächtigen Ehemanns, des Kunsthistorikers Aby Warburg. | |
Bis heute wird Warburg in Verbindung zu ihrem Mann betrachtet. Dessen | |
„Bilderatlas Mnemosyne“ war erst vergangenen Herbst in einer spektakulären | |
Ausstellung in der Sammlung Falckenberg zu sehen, seine Kollektion von | |
Pueblo-Kunst präsentiert ab März das Museum am Rothenbaum unter dem Titel | |
„Blitzsymbol und Schlangentanz“. Die Arbeit seiner Frau Mary wird dagegen | |
kaum wahrgenommen: Ein Großteil ihres Nachlasses befindet sich in der | |
Hamburger Kunsthalle, von Zeit zu Zeit ist dort auch mal das eine oder | |
andere Bild ausgestellt, aber eine große Schau? Für die muss man ins | |
kleine, abseits im Jenischpark gelegene Barlach-Haus. | |
Das ist das eine. Das andere ist, wie sehr sich Warburg selbst klein machte | |
in ihrer Kunst, in den rund 50 Pastellen, Aquarellen, Zeichnungen und | |
Plastiken, die im Barlach-Haus zu sehen sind. „Sie sucht Anschlüsse“, | |
beschreibt Hausherr Karsten Müller ihr kunstfertiges Ausprobieren in | |
unterschiedlichen Techniken, „kein künstlerisches Freischwimmen.“ Das | |
heißt: Warburg sieht etablierte Künstler*innen ihrer Zeit und arbeitet in | |
deren Stil, allerdings ohne Kämpfe mit der Ästhetik. Das Ergebnis sind | |
meist kleinformatige Landschaftsgemälde, Kinderporträts, Skizzen, die einen | |
in den Bann ziehen durch ihre Detailgenauigkeit und ihren Blick für | |
wirkungsvolle Reduktion, die allerdings weit weg sind vom Schmerz einer | |
Künstlerinnenexistenz. | |
Warburg war die Tochter des Hamburger Senators und Kaufmanns Adolph | |
Ferdinand Hertz – das war am Ende des 19. Jahrhunderts Großbürgertum, | |
wohlhabend und kunstsinnig. Gemeinsam mit ihrem Vater konnte sie sich | |
Reisen leisten, auf denen erste Gemälde entstanden, sie konnte sich auf der | |
Damenmalschule (damals eine der wenigen Ausbildungsmöglichkeiten für | |
Frauen) künstlerische Techniken aneignen. Widerstand? Kaum. Es gibt Briefe, | |
aus denen deutlich wird, dass sich die Halbakte, die sie zeitweise | |
zeichnete, für eine höhere Tochter unschicklich seien. Sei es drum. | |
Ein größeres Problem: die Ehe mit Aby Warburg. Die Familie Hertz war zum | |
Protestantismus konvertiert, ihre jüdische Vergangenheit wurde negiert, und | |
der Bankierssohn Warburg galt entsprechend als schlechte Partie, auch wenn | |
der jüdische Glaube für diesen selbst nicht zentral war. Mary Warburgs | |
Kunst war in dieser Phase auf Ausgleich bedacht. | |
Nachdem sie mit ihrem Mann um die Jahrhundertwende für einige Jahre nach | |
Florenz gezogen war, schickte sie ihren Eltern Bilder aus dem toskanischen | |
Alltag des Paares: „Schaut her, es geht uns gar nicht so schlecht“, sollten | |
diese forciert bürgerlichen Darstellungen sagen, „trotz der Mesalliance“. | |
Das prägt „Auf Augenblicke frei und glücklich“, eine Ausstellung, die | |
konventionell, luftig aber nicht unsympathisch gehängt drei Räume im | |
Barlach-Haus in Beschlag nimmt: die Idee, dass Kunst die bürgerliche | |
Ordnung nicht stören soll und dass schon kleine Ausbrüche – eine | |
angedeutete Brust, eine als nicht standesgemäße Liebe – Erschütterungen | |
bedeuten, zu denen man sich irgendwie verhalten muss. Kein Wunder, dass | |
Warburg keine formalen Experimente zuließ. | |
Ein Ausbruch in die Abstraktion etwa, wie ihn Zeitgenoss*innen ja | |
durchaus versuchten, wäre in dieser Welt eine Katastrophe gewesen. Was | |
nicht heißt, dass Warburg in den Konservatismus geflüchtet sei: Das Ehepaar | |
stand im Austausch mit der Kunstwelt, mit Arnold Böcklin und Adolf | |
Hildebrand, auch mit Ernst Barlach, von dem eine frühe, untypische | |
Zeichnung in die Schau geschmuggelt wurde, was den Kontext zum | |
Ausstellungsort herstellt. | |
Diese Kunst funktioniert, und weil man erkennt, wie talentiert Warburg war, | |
was sie für einen genauen Blick hatte, stimmt einen die Ausstellung ein | |
wenig melancholisch. Was hätte diese Künstlerin gekonnt, wenn man sie nur | |
gelassen hätte! Eine Ahnung gibt das einzige größere Gemälde, „Auf der | |
Wiese in Gosslers Park, Hamburg-Hoheluft“ (1894), das plötzlich Ausbrüche | |
zulässt, Verwischungen, Ungenauigkeiten, die ein Tor aufstoßen zum | |
Impressionismus und zur Moderne. All das ist angelegt in Warburgs Kunst, | |
aber den letzten Schritt zu einer eigenständigen Künstlerin ging sie dann | |
doch nicht. Weil dieser Schritt die bürgerliche Wohlanständigkeit zerstört | |
hätte. | |
Dass allerdings innerhalb dieses bürgerlichen Rahmens einiges möglich war, | |
arbeitet die Ausstellung mustergültig heraus. Warburg mag keine | |
Revolutionärin gewesen sein, aber innerhalb ihrer Beschränkungen war sie | |
eine hochkreative Künstlerin, die wahrscheinlich nicht einmal darunter | |
gelitten haben dürfte, immer nur als Frau ihres genialischen Gemahls | |
wahrgenommen zu werden. | |
Gezeigt wird auch eine Büste ihres Mannes – kurz stand der seiner Frau | |
Modell, brach die Sitzung aber bald ab. Fertiggestellt wurde die Büste nach | |
Aby Warburgs Tod 1929, nach dem Vorbild seiner Totenmaske: Die Unterordnung | |
der Frau unter den Mann mag eine bürgerliche Konvention sein, und wenn man | |
diese Konvention nicht brechen möchte, dann darf man sie zumindest dehnen. | |
Dass besagte Büste bis heute das Bild von Aby Warburg definiert, ist das | |
eine. Dass kaum jemand weiß, dass sie ein eigenständiges Kunstwerk ist, | |
geschaffen von einer Künstlerin von eigenem Rang – das ist der Preis für | |
die Akzeptanz bürgerlicher Zwänge. Es scheint, als habe sie das gesamte | |
Leben Mary Warburgs geprägt. | |
Auf Augenblicke frei und glücklich. Mary Warburg, Pastelle, Zeichnungen, | |
Plastiken, Ernst Barlach Haus, Hamburg, bis 12. Juni | |
16 Feb 2022 | |
## AUTOREN | |
Falk Schreiber | |
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