# taz.de -- schlagloch: Das Rätsel der Veränderung | |
> Ein Problem der aktuellen Debatte ist, dass Kämpfe nicht benannt, reale | |
> und vor allem materielle Zusammenhänge nicht formuliert werden | |
Ich versuche zurzeit oft zu verstehen, auch an dieser Stelle, wie | |
Veränderungen passieren, wie wir sie vorantreiben können, was die Allianzen | |
und was die Gegenkräfte sind. Das verschiebt sich, manchmal ist dort, wo | |
gerade noch vorne war, auf einmal eher hinten, und umgekehrt kommt Energie | |
manchmal von dort, wo man es nicht erwartet. | |
Die Veränderungen sind gerade aber auch so grundsätzlich, technologisch, | |
ökonomisch, sozial, das ganze Weltbild betreffend, dass die | |
Widerstandskräfte fast von selbst entstehen müssen, wie in der Physikstunde | |
damals, als das Weltbild Newtons erklärt wurde und die Beziehung von Actio | |
und Reactio – die einen drängen nach vorne, die anderen sind dagegen. | |
Dieses Bild von Veränderung gibt dem Ganzen eine Art Ordnung, baut klare | |
Gegner auf, sieht Veränderung oder Fortschritt als Nullsummenspiel, die | |
einen gewinnen, die anderen verlieren. Es ist das naturwissenschaftliche | |
Weltbild, wie es bis ins frühe 20. Jahrhundert galt – und im Denken im | |
Grunde bis heute, selbst wenn die Revolution der Quantenphysik durch Bohr, | |
Einstein, Heisenberg und andere die Vorstellung von Welt und damit auch der | |
Veränderung oder Veränderbarkeit von Welt fundamental erschüttert hat. | |
In der Vorstellung der Quantenphysik spielt Unsicherheit eine überaus große | |
Rolle, weil die Welt, im Gegensatz zu dem, was Newton im 17. Jahrhundert | |
formuliert hat, nicht all das ist, was wir sehen – die Einsicht kann zu | |
größerer Offenheit und Gelassenheit führen, fast in einem buddhistischen | |
Sinn, das Gleiten der Welt also als Realität; sie kann aber auch zu | |
Verwirrung und Verstörung führen, zu Ablehnung, Verweigerung, Verzweiflung, | |
in letzter Konsequenz zweifellos sogar zu Gewalt. | |
Benjamin Labatut hat das in einem fantastischen, wirklich im Wortsinn | |
fantastischen Buch beschrieben, das ich nur allen zum Lesen empfehlen kann. | |
Es heißt auf Englisch „When We Cease to Understand the World“, was sehr | |
viel mehr den Kern des Buches trifft als der deutsche Titel „Das blinde | |
Licht: Irrfahrten der Wissenschaft“ – denn bei aller Liebe zum Suhrkamp | |
Verlag, wo das Buch schon vor einer Weile erschienen ist, es geht nicht um | |
Irrfahrten der Wissenschaft, es geht um ein Erdbeben, physikalisch und | |
metaphysisch, das größer ist als alles, was wir uns vorstellen können. | |
Labatut, ein sprachlich ungemein talentierter chilenischer Schriftsteller, | |
erzählt die Geschichten der großen Mathematiker, Chemiker, Physiker vor | |
allem des 20. Jahrhunderts, wobei Werner Heisenberg eine zentrale Rolle | |
einnimmt. Der Einblick in die Komplexität der Welt, um einen etwas banalen | |
Ausdruck zu verwenden, führt sie alle an den Rand ihres Verstandes und | |
ihrer Vernunft und manche in so etwas wie Wahn oder Wahnsinn. | |
Der englische Titel macht dabei sehr schön klar, dass dieser Zustand | |
kollektiv ist, es ist das Wir in der Verwirrung, was eine auch politische | |
Bedeutung bekommt – die Welt, die wir geschaffen haben, können und werden | |
wir nicht verstehen, das ist eine der Botschaften dieses romanhaft | |
überhöhten Berichts von Erkenntnissen von atemberaubender Schönheit und | |
Verwüstung; die Konsequenz davon ist, dass wir einen Weg finden müssen, in | |
dieser Verwirrung zu leben, ohne in ihr zu verharren. | |
Und hier, unter anderem, fangen die Schwierigkeiten an, weil unsere | |
Abmachung eine andere ist, politisch, menschlich, sozial – wir können, wir | |
müssen verstehen, was geschieht, darauf ist unsere Vorstellung von | |
Demokratie genauso gebaut wie die Beziehungen in Familie und Gesellschaft, | |
die Identität und Individualität genauso wie die Vorstellung von | |
Fortschritt und Veränderung. | |
Was also bedeutet es, wenn wir die Welt nicht mehr verstehen? | |
Das Buch von Labatut macht in gewisser Weise den Kopf klar und frei für | |
eine andere Realität, es ist eine Denkübung jenseits von festgelegten | |
Prämissen von Rationalität – und das ist notwendig, diese Offenheit für das | |
radikal Andere, um zu Veränderungen zu kommen. Es ist auch ein Loslassen | |
von Bekanntem, es geht darum, die Unsicherheit als eine Konstante ins | |
eigene Leben und Denken einzubauen. | |
Wer das verleugnet, wird leicht und ganz im Sinne Newtons: reaktionär – | |
verleugnet also die komplexe Natur unserer Welt und die Limits dessen, was | |
wir wissen und verstehen können. Es ist fast eine Art von kindlichem Trotz, | |
ein Beharren darauf, sich sein Weltbild nicht durch die Wirklichkeit | |
kaputtmachen zu lassen, eine Wirklichkeitsflucht also, in | |
Parallelrealitäten und -wahrheiten, eine Weltflucht. | |
Veränderung also, und das ist keine Banalität, findet immer in der Welt | |
statt – Veränderung hat eine materielle Grundlage, sie ist nicht | |
symbolisch, auch wenn Narrative oder das Framing von Realität eine Rolle | |
spielt. Das heißt aber auch, dass die Kämpfe für Veränderung real sind, nie | |
allein symbolisch, weil es um Interessen geht, die sehr klar zu benennen | |
sind. | |
Ein Problem nun der aktuellen Debatte scheint mir zu sein, dass diese | |
Auseinandersetzungen und Kämpfe nicht benannt werden, dass reale und vor | |
allem materielle Zusammenhänge nicht formuliert werden – der Umstand etwa, | |
dass die zehn reichsten Männer dieser Erde ihren Reichtum während der | |
Pandemie verdoppelt haben, wird zwar gemeldet, es wird aber nicht in | |
direkte Verbindung zu Fragen gesetzt, wie unsere Gesellschaften auf die | |
Folgen der Coronapandemie reagieren sollen. | |
Ich frage mich, warum das so ist. Es ist ja offensichtlich ein massives | |
Problem. Ist es zu groß, um es zu sehen, wie es Timothy Morton beschrieben | |
hat, der Kapitalismus als Hyperobjekt, das alle sehen, aber nur wenige | |
begreifen oder begreifen wollen? | |
Labatut, so haben manche das Buch verstanden, handelt auch von der | |
Klimakrise – es ist eine zentrale Frage unserer Zeit, wie wir aus | |
Komplexität Handlungsoptionen entwickeln. | |
26 Jan 2022 | |
## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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