# taz.de -- Sympathien für einen Mörder, der lernen will | |
> „Alphabet“: Kathy Pages ambivalente Geschichte eines | |
> Resozialisierungsprojekts | |
Von Thomas Schaefer | |
Ein differenzierter Umgang mit Problemen ist als solcher zwar bekanntlich | |
schwierig, aber auch notwendig. Das illustriert „Alphabet“, der zuerst 2004 | |
in England erschienene Roman der Kanadierin Kathy Page. Darin greift die | |
1958 geborene Autorin, die hierzulande 2019 mit dem Roman „All unsere | |
Jahre“ auf sich aufmerksam gemacht hat, auf Erfahrungen zurück, die sie | |
Mitte der Neunziger als „Writer in Residence“ in einem englischen | |
Männergefängnis gesammelt hatte. In einer solchen Haftanstalt lebt ihr | |
1988, zu Beginn der Geschichte, 29-jähriger Protagonist Simon Austen, der | |
mit Anfang zwanzig seine Freundin ermordet hat und zu „lebenslänglich“ | |
verurteilt wurde. | |
Simon verfügt über eine klischeehaft anmutende Biografie: Der Vater ist | |
unbekannt, die Mutter hat ihren kleinen Sohn im Stich gelassen, es folgen | |
dessen Aufwachsen bei Pflegeeltern und im Heim, ein Job als Teppichleger, | |
dann das Verbrechen, die Verurteilung, Haft. Das wirkt auf den ersten Blick | |
ebenso modellhaft wie Pages Bilder aus dem Innenleben der | |
Hafteinrichtungen. Die Beschreibungen der dort angestrengten Therapien, der | |
Hierarchien und Machtstrukturen erinnern an die psychiatrie- und | |
strafvollzugskritische Reformbewegung der 1970er Jahre, an einst | |
diskursleitende Bücher wie Heinar Kipphardts „März“ oder Ken Keseys „Ei… | |
flog über das Kuckucksnest“. | |
Freilich weiß Kathy Page nur zu gut, wie komplex ihr Stoff ist, um sich mit | |
simplen programmatischen Ansätzen zufriedenzugeben, wenn sie Simons Weg | |
durch die Gefängnisse folgt. „Alphabet“ ist mehr als ein sozialkritisches | |
Fallbeispiel: ein Entwicklungs- und Bildungsroman. Der Junge, der als | |
Analphabet inhaftiert wird, lernt lesen und schreiben und entwickelt einen | |
starken Ehrgeiz: Er will etwas aus sich machen, gar studieren: „Lerne! | |
Verändere dich! Sei nicht stolz. Mach’s anders, besser“, lautet sein | |
Mantra. Bildung ist der Weg ins Freie, auf die Wörter kommt es an, die | |
verschleiern und verwirren, aber auch Erkenntnis fördern und Kraft geben | |
können, Wissen ist tatsächlich Macht. | |
## Mit Trotz seine Würde verteidigen | |
Dass es um Macht geht, macht den Roman kompliziert. Zum einen gibt es | |
allerlei Rivalitäten unter dem behandelnden Personal, von dem Simon | |
gelegentlich zu jeweiligen Karriere- oder Konkurrenzzwecken | |
instrumentalisiert wird. Der Umstand, dass er lange nicht bereit ist, sich | |
zu seiner Tat zu bekennen, erschwert es ihm, seine eigenen Ziele zu | |
erreichen – auch er ist nicht frei von dem Versuch, Macht auszuüben, Leute | |
auf seine Seite zu ziehen. Simon ist ein so sensibler wie bockiger Mensch, | |
der sich sehr aufregen kann, wenn ihm beispielsweise ein Therapeut erklärt, | |
eine anstehende Behandlungsmaßnahme ziele ab auf „ein besseres Verständnis | |
von Ihrem Sexualtrieb im Kontext des indizierten Delikts“. | |
Der Trotz, mit dem er seine Würde verteidigt, lädt zur Identifikation mit | |
diesem schwierigen Charakter ein, dem durchaus bewusst ist, was er getan | |
hat und dass er sein Leben lang mit seiner Schuld klarkommen muss. „Ich | |
mache das auf meine Art“ ist das Motto, das sich wie ein roter Faden durch | |
seinen Werdegang zieht. Man beginnt Sympathien für ihn zu entwickeln, weil | |
man dem Können der Autorin erliegt, ihrem sicheren Gespür für Tempo und | |
Timing, dem dramaturgisch geschickten Erzählen, das nie die Ambivalenzen | |
dieses Protagonisten leugnet, bei dem wir es womöglich mit einem | |
Manipulator zu tun haben. | |
Simon manipuliert die Frauen, mit denen er Brieffreundschaften eingeht, das | |
therapeutische Personal, uns, die wir seiner Geschichte zuhören. Doch | |
vielleicht ist er auch nur ein überforderter junger Mann, der Mühe hat, | |
seinen Weg zu finden und, weil er das unter der belastenden Not von Schuld | |
und Sühne zu tun hat, droht vom Täter zum Opfer zu werden. Dass er auf | |
einen Mithäftling trifft, der sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht | |
und für Simon zum Mentor auf dem Weg zur Selbstfindung avanciert, weist den | |
Roman als sehr gegenwärtig aus. Nötig hätte er eine solch überdeutliche | |
Erkenne-dich-selbst-Lektion nicht, die eindrückliche Geschichte, ihr | |
differenziertes Seelen-Bild, hätte auch so getragen. | |
8 Jan 2022 | |
## AUTOREN | |
Thomas Schaefer | |
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