# taz.de -- Imitation virtueller Erfahrungen | |
> „Wahrnehmung bedeutet immer Projektion“, das erkennt Christoph Peters in | |
> seinem Buch „Tage in Tokio“, dem Bericht einer Reise nach Japan | |
Von Thomas Schaefer | |
Bei aller gebotenen Zurückhaltung im Umgang mit Superlativen wird man sich | |
mit der Behauptung, [1][Christoph Peters] sei der beste Japan-Kenner der | |
deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, nicht zu weit aus dem Fenster | |
lehnen. Das beginnt mit dem Roman „Mitsukos Restaurant“ (2009) reicht über | |
„Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln“ (2014) und „Diese wunderbare | |
Bitterkeit – Leben mit Tee“ (2016) bis zu zwei Krimis um die japanische | |
Mafia, „Der Arm des Kraken“ und „Das Jahr der Katze“. So machen Bücher… | |
denen sich Peters mit diversen Facetten der japanischen Kultur beschäftigt, | |
einen starken Zweig im umfangreichen Werk des 1966 im [2][niederrheinischen | |
Kalkar] geborenen Autors aus. | |
Umso überraschender ist, dass sich diese Bücher zwar offensichtlich | |
intensiven Studien verdanken, ihr Autor aber lange nicht vor Ort war. Erst | |
im November 2019, ermöglicht durch eine Berufung als Writer in Residence an | |
der Universität Tokio, ist Peters erstmals in das Land seiner Sehnsucht | |
gereist; das Staunen über diesen so späten Ortstermin teilt er mit seiner | |
Leserschaft. | |
Er wird das Staunen als Grundbefindlichkeit während seiner Reise nie | |
verlieren. Es ist ein dialektisches Staunen, das des intimen Kenners eines | |
Landes, welches dieser Kenner nun zum ersten Mal mit eigenen Augen sieht: | |
einerseits durch sein Wissen, seine Begegnungen und Kontakte, nicht zuletzt | |
durch „Tausende Stunden virtueller Fahrten am Steuer von Google-Streetview“ | |
geradezu überqualifiziert, andererseits ein Novize, ein veritables | |
Greenhorn. Alles wirkt vertraut und gleichzeitig irritierend, so dass beim | |
Reisenden der leicht verstörende Eindruck entsteht, „dass die Wirklichkeit | |
vor meinen Augen eine Imitation virtueller Erfahrungen ist“. | |
Das beginnt schon mit der Ankunft auf dem Flughafen von Tokio, wo der | |
deutsche Schriftsteller von Professor Kumekawa abgeholt wird, dem sich die | |
Einladung im Wesentlichen verdankt, es setzt sich fort auf der Zugfahrt in | |
die Stadt, auf der der Reisende bereits gezwungen ist, seine Vorstellungen | |
zu revidieren und beispielsweise festzustellen, wie „normal“, sprich: | |
europäisch die Landschaft anmutet. In der Stadt geht es weiter. Peters | |
logiert auf eigenen Wunsch nicht in einem globalen Normen entsprechenden | |
Hotel, sondern, verständlicherweise das „Typische“ suchend, in einem | |
Ryokan, einem traditionellen japanischen Gasthaus. Zwar werden die | |
Erwartungen nicht enttäuscht, aber auch nie unkompliziert erfüllt. Das | |
liegt auch daran, dass sich der Reisende stets selbst hinterfragt und | |
darüber nachsinnt, wie weit sein Verhalten das der ihm begegnenden Japaner | |
beeinflusst und wie vorwitzig sein Vorwissen wirken könnte, und sich | |
deshalb auf eigentlich unnötige Weise zurücknimmt: „Was immer ich sagen | |
würde, bliebe das Geschwätz eines Hochstaplers“. | |
Christoph Peters’ Werk ist geprägt vom Interesse an spirituellen Themen: | |
von der Auseinandersetzung mit dem Katholizismus seiner niederrheinischen | |
Heimat über die Beschäftigung mit dem Islam bis hin zur japanischen | |
Zen-Kultur. Seine von Matthias Beckmann hinreißend illustrierten Tokioter | |
Beobachtungen reflektieren diese Thematik anhand von Besuchen eines Tempels | |
oder einer Tee-Keramik-Ausstellung, dabei immer eingenommen von | |
Meditationen über die „eigenen kulturellen Prägungen“ und deren Einfluss | |
auf seine Rolle als Japan-Besucher: „Wahrnehmung bedeutet immer | |
Projektion“. | |
Wir haben es folglich nicht mit einem konventionellen Reisebericht zu tun, | |
sondern mit einer selbstironisch und unterhaltsam geschriebenen Studie über | |
die Begegnung mit dem „Anderen“ angesichts einer Welt, deren digitale | |
Verfügbarkeit die Möglichkeit suggeriert, alles rasch verstehen zu können. | |
Solche Selbstgewissheiten entlarvt Peters als Irrtum, wenn nicht gar | |
Hybris. Die Erfahrungen, die Christoph Peters in Tokio in der Konfrontation | |
mit dem vermeintlich vertrauten Fremden und mit der Fragilität von | |
Gewissheiten macht, lassen sich im Grunde auf alle Formen von Begegnungen | |
übertragen und möglicherweise in Zeiten, in denen sich Ansichten zu | |
Glaubenssätzen verfestigen, geradezu nutzbringend anwenden. | |
Christoph Peters: „Tage in Tokio“. Mit Zeichnungen von Matthias Beckmann. | |
Luchterhand, München 2021, 250 Seiten, 16 Euro | |
3 Jan 2022 | |
## LINKS | |
[1] /!5714034&SuchRahmen=Print | |
[2] /!5802605&SuchRahmen=Print | |
## AUTOREN | |
Thomas Schaefer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |