# taz.de -- Schutzheilige der Taxigäste | |
> Sie prägte die US-amerikanische Gesellschaft mit ihren Reportagen und | |
> Essays. Mit ihrem desillusionierten Blickund mit ihrer Trauer. Nun ist | |
> Joan Didion mit 87 Jahren gestorben | |
Bild: Unbestechlich, aber erschütterbar: Joan Didion | |
Von Julia Lorenz | |
Wer 28 Jahre alt ist und im Taxi weinen muss, weil einem das Leben, von dem | |
man immer geträumt hat, über dem Kopf zusammenklatscht wie eine | |
hinterhältige Welle, der muss die Schutzheilige der traurigen Taxigäste | |
anrufen: die US-amerikanische Schriftstellerin Joan Didion, die nun, mit 87 | |
Jahren, in New York City verstorben ist, in der Stadt, aus der sie einst | |
geflüchtet war. | |
In ihrem Essay „Das Spiel ist aus“ von 1967 beschreibt sie, wie sie in | |
ihrer Sehnsuchtsstadt mit 28 die Krise bekam, ihre Lieblingsrestaurants | |
nicht mehr betreten konnte, die Menschen, die ihr wichtig waren, | |
beleidigte, und überhaupt: weinte. „Ich weinte so lange, bis ich nicht mal | |
mehr unterscheiden konnte, wann ich weinte und wann nicht, in weinte in | |
Fahrstühlen, in Taxis und in chinesischen Wäschereien“, schrieb sie. | |
Joan Didion fand die elegantesten Sätze der Welt, aber selten, so schien | |
es, vollumfängliche Zufriedenheit an einem Ort. | |
Sie wuchs in Kalifornien auf und gewann 1956, nach Abschluss ihres | |
Literaturstudiums in Berkeley, den „Prix de Paris“ des Modemagazins Vogue. | |
Damit hatte Didion einen Redakteursjob in New York City in der Tasche. Acht | |
Jahre lang schrieb sie für die Vogue – bis die Traurigkeit größer wurde als | |
der Traum von New York. 1964 heiratete Didion den Schriftsteller und | |
Drehbuchautor John Gregory Dunne. Mit ihm gemeinsam ging sie zurück nach | |
Kalifornien, bald adoptierten sie ihre Tochter Quintana Roo. | |
Obwohl Didion vor allem als stilbildende Essayistin berühmt wurde, als | |
Patin des subjektiven Reportagestils, den man bald als „New Journalism“ | |
bezeichnen würde, und auch als Romanautorin, begann ihre Rezeption im | |
deutschen Mainstream vor allem mit ihrem Memoire „Das Jahr magischen | |
Denkens“, in dem sie den Tod ihres Ehemannes verarbeitete: ein großer, | |
bewegender Bericht über Trauer und die Routinen, in die sich Menschen | |
flüchten, denen Geliebtes genommen wird. „Ich war nicht immer überzeugt, | |
dass er recht hatte, auch er war nicht immer überzeugt, dass ich recht | |
hatte, aber wir waren füreinander der Mensch, dem man vertraute“, schrieb | |
sie 2005 im „Jahr magischen Denkens“. | |
In der Netflix-Dokumentation „The Center Will Not Hold“ von 2017 erklärte | |
sie ähnlich rührend pragmatisch, Verlieben sei ihre Sache nie gewesen, aber | |
sie sei eben gern in dieser Beziehung gewesen. Dunne und sie redigierten | |
einander jeden einzelnen Text, auch Essays, die von ihren eigenen | |
Eheproblemen handelten. Über ihre Eltern schrieb sie einmal: „Objektiven | |
Darstellungen zufolge bin ich in einer ‚normalen‘ und ‚glücklichen‘ Fa… | |
aufgewachsen, und dennoch war ich fast dreißig, ehe ich mit meiner Familie | |
am Telefon reden konnte, ohne nach dem Auflegen weinen zu müssen.“ | |
Didions Familie gehörte zu den ersten, die nach Kalifornien gekommen waren. | |
Die Frontier-Erzählungen der ersten weißen Siedler:innen geisterten | |
lange durch ihr Leben, beeinflussten sicher auch ihre Sicht auf alte und | |
neue (Anti-)Held:innen Hollywoods, die sie für ihre Essays und Reportagen | |
porträtierte wie niemand sonst: John Wayne und Jim Morrisson, Joan Baez und | |
Linda Kasabian, die Charles Manson zum Mord an der Schauspielerin Sharon | |
Tate kutschiert hatte. | |
Obwohl sie die Erzählungen, die L.A. umrankten, in ihren Texten immer | |
wieder auseinandernahm, war Didion mehr als die | |
Desillusionierungsbeauftragte der sogenannten Traumfabrik. Mit Kalifornien | |
war sie viel zu eng verbunden („California belongs to Joan Didion“, hat die | |
Literaturkritikerin Michiko Kakutani 1979 geschrieben), um seinem Zauber | |
nicht auch mal mit Genuss zu erliegen. | |
In „Pazifische Entfernungen“, einem Essay aus dem Band „Sentimentale | |
Reisen“, schreibt sie über die Entfremdung, über den seltsamen Raum- und | |
Zeitkapselzustand, in dem man sich beim Autofahren durch L.A. befindet; und | |
trotz (oder gerade wegen) der Ambivalenz des von Didion beschriebenen | |
Sentiments zieht es einen magisch hin in diese Welt der pastellfarbenen | |
Bungalows und Unverbindlichkeiten. | |
Spürbare innere Unrast ist eine Konstante in Didions Schaffen, ansonsten | |
hatte sich der Ton ihrer Essays und Romane über die Jahre verändert: Die | |
späten Texte prägte oft Wehmut, die frühen Unbehagen, wenn nicht gar Horror | |
vor den Umwälzungen jener Zeit. | |
„Die Mitte hielt nicht länger“ – „The center will not hold“: Mit die… | |
Worten begann „Slouching Towards Bethlehem“ („Das Jahr der Bestie“), der | |
Essay über die ganz frühen Tage der Hippiebewegung in San Francisco, der | |
sie 1967 zum Star machen, dazu ihren Status als die widersprüchliche Figur | |
im Kalifornien der 60er festigen sollte. Kaum ein berühmtes Foto von der | |
jungen Joan Didion, auf dem sie ohne Zigarette, Drink oder schnelles Auto | |
posiert, kaum ein Foto frei von Artefakten der gegenkulturellen Boheme. Und | |
doch betrachtete sie das Geschehen auf den Ashbury Heights durch die Augen | |
einer Frau aus konservativem Hause. | |
Sie schaute genau hin, wo andere vor allem Veränderung fühlen wollten, und | |
fand dabei – Jahre, bevor Charles Manson und seine „Family“ in den | |
Hollywood Hills mordeten – die dunkle, beklemmende, hässliche Seite des | |
Blumenkindertraums: desolate, wohnungslose Teens. Fünfjährige Kinder auf | |
Acid, was Didion, wie sie selbst sagte, besonders schwer ertragen konnte, | |
weil sie während der Recherche von ihrer zweijährigen Tochter Quintana | |
getrennt war. | |
Nun schien es aber nie so, dass Didion das Kalifornien, durch das sie | |
streifte wie ein sehr charismatisches Reportergespenst, am liebsten mal | |
ordentlich durchgekehrt hätte. Erst recht aber wollte sie nicht – anders | |
als viele Autor:innen, denen man das „New Journalism“-Label anheftete – im | |
Zentrum der gerade entstehenden Promi- und Rock-’n’-Roll-Kultur stehen. | |
(Viele Hollywoodgrößen sollten später trotzdem bei ihr und John Gregory | |
Dunne ein- und ausgehen.) | |
Didion war auch eine kühne Theoriearchitektin wie Susan Sontag; lieber | |
stand sie schmal und schlau am Rand, wenn die Welt sich veränderte, und | |
guckte zu: immer mit Sicherheitsabstand, immer mit so viel Skepsis vor | |
revolutionärem Furor aller Art, dass sie niemals mitbrennen wollte, wenn | |
die Gesellschaft für eine Sache Feuer gefangen hatten – sei es für die | |
Schwarze Bürgerrechtsbewegung oder die Vietnam-Proteste. | |
In einem 1965 erschienenen Essay über Moral schrieb sie, dass wir „bei | |
allem, was über unsere fundamentale Loyalität der sozialen Verabredung | |
gegenüber hinausgeht, keine Möglichkeit haben zu wissen, was ‚richtig‘ und | |
was ‚falsch‘, was ‚gut‘ und was ‚böse‘ ist“. Und weiter: „Wenn… | |
anfangen, der Täuschung zu erliegen, daß wir bestimmte Dinge nicht einfach | |
haben wollen oder sie brauchen, […] sondern wenn dieses Haben-Wollen zu | |
einem moralischen Imperativ wird, spätestens dann gehören wir zu den | |
modernen Wahnsinnigen, spätestens dann ist das dünne Winseln der Hysterie | |
im ganzen Land zu hören, und spätestens dann stecken wir in großen | |
Schwierigkeiten. Und ich vermute, daß es bereits so weit ist.“ | |
Joan Didion, die kalifornische Tochter, war ein Mensch, der sich das | |
Zaudern und Zweifeln, die renitente Weigerung zu radikaler Parteinahme und | |
das Unbehagen vor Umbrüchen leisten konnte – aus ihrer Sicht wohl: leisten | |
musste, um nicht kaputtzugehen. Sie hatte Angst davor, dass die Mitte nicht | |
hielt, vielleicht, weil ihre eigene Mitte nicht hielt. | |
Didion war unbestechlich, aber erschütterbar. Als Essayistin machte sie | |
verlässlich kurz vorm Solipsismus kehrt, um hinter großen | |
Sonnenbrillengläsern zurück aufs irdische Geschehen zu blicken. In dieser | |
Zwischenwelt zwischen wolkiger Sentimentalität und Klarsicht, in der es oft | |
einsam gewesen sein muss, lebte die Schriftstellerin Joan Didion. | |
Sie wurde am 5. Dezember 1934 in Sacramento geboren und verstarb am 23. | |
Dezember 2021 in Manhattan, der Stadt, in deren Taxis noch immer viele | |
junge Menschen um ihren Traum weinen. | |
27 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Julia Lorenz | |
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