# taz.de -- schlagloch: Politikum Erschöpfung | |
> In Zeiten der Pandemie macht sich Einsamkeit breit. Die psychischen | |
> Folgen sind ein soziales Phänomen, für das es entsprechende Lösungen | |
> braucht | |
Erschöpfung ist politisch. Auch – und gerade – weil dieser Umstand nicht so | |
benannt wird. Die Erzählung ist eine andere, die Zeiten sind andere: Du | |
bist müde, heißt es. Du schaffst es nicht. Aber du kannst es schaffen. Wenn | |
du dich nur anstrengst. Wenn du dich nur zusammenreißt. Es liegt an dir. | |
Wir anderen schauen zu. Uns geht es ja gut. Es ist deine Entscheidung. | |
Diese Erzählung ist Gegenwartsmythologie, sie erschafft Realität. Einzelne | |
verhalten sich danach, die Gesellschaft orientiert sich daran. Das hat | |
Folgen: Im Persönlichen bedeutet es, dass sich Fragen nach Druck, | |
Veränderung, Leere, Perspektivlosigkeit als Makel erweisen, als eigenes | |
Verschulden. Im Sozialen bedeutet es, dass die Organisation des Leidens, | |
das gegenseitige Helfen, die Wärme und Würde skeptisch gesehen werden. | |
Es fehlen vielen die Vorstellungen, wie ein besseres Miteinander gestaltet | |
werden könnte. Die Orte des Sozialen sind geschrumpft, Vereine, | |
Gewerkschaften, Kirchengemeinde. Gemeinsamkeit wird in den Konsum | |
ausgelagert, die Shoppingmall als Kirche. Es fehlen die Institutionen, wie | |
empathisch, offen, nah andere gesellschaftliche Zusammenhänge hergestellt | |
werden können, wie Hilfe geht. | |
Psychische Gesundheit, hat Geoff Mulgan gesagt, der lange die britische, | |
staatlich gegründete und finanzierte Innovations-Agentur Nesta geleitet hat | |
und heute unter anderem Fellow an The New Institute ist, psychische | |
Gesundheit ist im 21. Jahrhundert ein Thema wie soziale Ungleichheit oder | |
Teilhabe es im 19. und 20. Jahrhundert waren und bleiben – in Problemen der | |
psychischen Gesundheit bündelt sich gesellschaftliche Unwucht. | |
Erschöpfung also als soziales Phänomen – in Zeiten von Corona am Ende | |
dieses Jahres eine verbreitete Erfahrung – wird damit zu einer politischen | |
Frage, einer Frage von Macht und Interessen, einer Frage von Verantwortung | |
und Veränderung. Es geht darum, psychische Gesundheit insofern zu | |
politisieren, als sie eben keine individuelle Herausforderung ist, sondern | |
zu einer Herausforderung für den gesellschaftlichen und damit | |
demokratischen Zusammenhalt geworden ist. | |
Was das konkret bedeuten kann, zeigt ein Beispiel aus Großbritannien, aus | |
der Stadt Frome. Es geht dabei um eine andere gesamtgesellschaftliche | |
Erkrankung, denn Erschöpfung ist nur ein Symptom – es geht um Einsamkeit, | |
ein „globales Gebrechen“, wie es die New York Times nennt, die auch über | |
die Lösungen berichtet, die in Frome entwickelt wurden und die | |
Modellcharakter haben von Hongkong bis Kolumbien, von Australien bis nach | |
Dänemark. | |
Ein Kerngedanke dabei ist, dass Einsamkeit erst einmal als medizinisches | |
Problem gesehen wird und damit als solches angegangen wird – angefangen mit | |
dem lokalen Krankenhaus, der Frome Medical Practice, die sich um das | |
emotionale Wohlergehen der Patient*innen kümmert, indem Verbindungen zu | |
lokalen Freiwilligen- oder Selbsthilfegruppen hergestellt werden, wobei es | |
um so banale wie essenzielle Dinge geht wie Kochen, das Leben mit der | |
Digitalisierung, gemeinsames Gegenwartserlernen, gerade für Ältere. | |
In Frome hat sich darüber hinaus eine lokale informelle Infrastruktur | |
entwickelt, die den Polis-Charakter der Politik betont, also die Frage | |
danach, wie wir in einem städtischen Kontext zusammenleben – konkret sind | |
das Ideen wie der „Gemeinschaftskühlschrank“, wo man sich Essen abholen | |
kann, der Frome Coat Rack, wo es Mäntel und andere Kleidungsstücke umsonst | |
gibt, und die Talking Bench, wo jeden Mittwochmorgen Freiwillige warten und | |
mit jedem reden, der oder die das braucht. | |
Allein dieses Bedürfnis schon, das Formulieren dieser Notwendigkeit, das | |
Benennen dieses Mangels, bedeutet eine entscheidende Veränderung in der | |
mentalen Infrastruktur der kleinen Stadt – in der Beschreibung durch die | |
New York Times wird eine wache Zärtlichkeit deutlich, wie sie entsteht, | |
wenn Menschen aufeinander achten und die gegenseitige Schwäche wahrnehmen, | |
anerkennen, aussprechen. Es ist ein anderes Verständnis von Politik und | |
Gemeinsamkeit jenseits von Parteipolitik oder Interessen, sehr praktisch | |
und menschenfreundlich. | |
Geoff Mulgan wandte sich mit seiner Bemerkung über die Politisierung der | |
psychischen Gesundheit vor allem an die Sozialdemokratie, die etwa | |
gemeinsames oder gesellschaftliches Lernen als Teilhabe im 19. und 20. | |
Jahrhundert als zentrales Anliegen verfolgte – eine Art | |
Bottom-up-Emanzipation, so wie auch die Antworten auf Epidemien der | |
Einsamkeit sehr dezentral und lokal gedacht werden sollten, wie es das | |
Beispiel in England zeigt. | |
Es ist damit eine andere Gestalt des Politischen, die sich hier entwickeln | |
lässt, extrem wichtig in diesen Zeiten der Pandemie, der Maßnahmen und | |
Lockdowns, eine andauernde (und oft notwendige) Praxis der Kontrolle und | |
Überwachung, die die verbreitete Angst, Anstrengung, Erschöpfung oft noch | |
verstärkt – was fehlt, ist so etwas wie Empathie, Nähe, Zuwendung, | |
Gemeinsamkeit in der Frage, wie wir mit den Folgen von Corona umgehen. | |
Mehr als die Hälfte der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland | |
sagen, dass sie mehr Angst vor Depression oder anderen psychischen | |
Erkrankungen wie Einsamkeit haben als vor Corona selbst, das ergab gerade | |
eine Studie der Generationen Stiftung – diese Folgen werden bleiben, auch | |
wenn sich das Leben mit Corona irgendwann eingespielt hat und die Pandemie | |
überwunden ist. | |
Auch das wäre eine Chance, eine Anregung, unser Leben anders gemeinsam zu | |
organisieren, sozial zu experimentieren, die Folgen der Vereinzelung nicht | |
kulturpessimistisch zu betrachten und betrauern, sondern konkret etwas zu | |
tun – und damit dem Geist eines banalisierten und politisierten | |
Individualismus entgegenzutreten, der sich seit Jahrzehnten viral | |
verbreitet hat. | |
22 Dec 2021 | |
## AUTOREN | |
Georg Diez | |
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