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# taz.de -- In der lyrischen Plantage
> Totengespräch mit Dichterkönigen: Norbert Lange reanimiert mit Jack
> Spicer den Orpheusmythos inklusive lässig-ironischer Exkurse – „Unter
> Orangen“
Von Michael Braun
Der Ruf des unwiderstehlichen mythischen Sängers Orpheus hat schwer
gelitten, seit ihn Klaus Theweleit in seinem „Buch der Könige“ (1988) als
zwielichtige Gestalt porträtierte, die über Frauenleichen geht. Der
thrakische Magier war einst in die Unterwelt hinabgestiegen, um mit seinem
betörenden Gesang die Mächte des Hades zu sedieren und seine geliebte
Eurydike ins Leben zurückzuführen.
Aber er hat bekanntlich versagt. Es besteht also kein Grund für heutige
Lyriker, ihm mit allzu großer Ehrfurcht entgegenzutreten. So hat denn auch
der amerikanische Lyriker Jack Spicer (1925–1965) sehr viel zur Demontage
des mythischen Sängers beigetragen, als er ihn in einer Reihe von Gedichten
um 1960 zur sehr irdischen, narzisstischen und fehleranfälligen Gestalt
profanierte.
Nach Spicers Vorstellung ist es nicht der Dichter, der seine Texte
komponiert, sondern es ist das Gedicht selbst, das den Dichter erfindet. In
Anlehnung an Jean Cocteaus Film „Orphée“ (1949) glaubte Spicer, dass seine
Gedichte die Ergebnisse von „Transmissions“ von außen seien. Poesie erweist
sich gewissermaßen als okkulte Botschaft aus dem Jenseits.
Diese kreativen Verwandlungsprozesse hat sich nun der Berliner Dichter und
Jack-Spicer-Übersetzer Norbert Lange in seinem neuen Gedichtband „Unter
Orangen“ angeeignet und daraus eine überaus vergnügliche Eigenkomposition
gezaubert. Der 1978 geborene Lange versteht seine Poesie seit je als
„Quellenkunde“, als das Übermalen kanonisch gewordener Urtexte. Seine
Quellen findet er vor allem bei amerikanischen Rhapsoden wie Charles Olson
und Jerome Rothenberg. In seinen gesammelten „Orangen“ hat er nun mit Jack
Spicer einen Partner gefunden, der gewissermaßen von seinem Übersetzer
Besitz ergriffen hat. Denn hier startet Lange einen intensiven Dialog mit
dem toten Dichter, indem er Spicer-Motive in drei verschiedenen Modi
transformiert.
Der erste Teil des Buches ist eine mehr oder weniger freie Übersetzung und
Fortschreibung der Orpheus-Gedichte von Spicer. Im umfangreichen zweiten
Kapitel montiert Lange aus der Anverwandlung weiterer Dichterstimmen
(Blaise Cendrars, Fernando Pessoa u. v. a.) eine kleine Galerie moderner
Lyrikerexistenzen, die hier als „Orangen“ firmieren. Beim symbolträchtigen
Orangen-Motiv stand weniger Gottfried Benn Pate, der einst in seiner
Schrift „Doppelleben“ (1950) anmerkte, seine „absolute Prosa“ sei
„orangenförmig“ gebaut, da sie wie die einzelnen Fruchtteile nicht in den
Raum strebe, sondern „in die Mitte“.
In Langes lyrischer Orangen-Plantage war wohl wiederum Jack Spicer der
Ideengeber – nur dass im Spicer’schen Original Zitronen eine weit größere
Rolle spielen: „Kind-Poeten waren die Orangen eigentlich.“
Im dritten und abschließenden Teil kapert Lange ein weiteres
Spicer-Projekt. Dieser hatte 1957 seine Sammlung „After Lorca“
veröffentlicht, einer Reihe angeblicher Übersetzungen Federico García
Lorcas mit einem fingierten Vorwort Lorcas. Komplementär dazu hat sich
Lange Briefe des toten Spicer an ihn als seinen Übersetzer ausgedacht.
Diese Briefe sind höchst anregende Freibeuterschriften, da sie weder den
Dichterberuf noch den Dichter selbst allzu ernst nehmen.
Als geheimer Refrain dieser lässig-ironischen Exkurse wird die Begegnung
von Friedrich Gottlieb Klopstock und Christian Morgenstern vorgeführt:
„Schon gehört? Gestern sind sich Morgenstern und Klopstock in die Haare
geraten und aufeinander geraten und aufeinander losgegangen.“
Mit solchen heiteren Respektlosigkeiten ist Nobert Langes Orpheus- und
Jack-Spicer-Adaption reichlich ausgestattet. Orpheus’ Trip in die Hölle
vollzieht sich als moderne Tragikomödie.
4 Dec 2021
## AUTOREN
Michael Braun
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