# taz.de -- Sich-Einrichten im Ephemeren | |
> Diese Fotografie ist beobachtend, analytisch, laid-back, unsentimental | |
> und verkörpert nordamerikanische Befindlichkeiten: Retrospektive des | |
> US-amerikanischen Fotografen Lee Friedlander bei C/O Berlin | |
Bild: Haverstraw, New York, 1966 | |
Von Ulf Erdmann Ziegler | |
Vielleicht musste erst [1][Robert Frank] sterben, damit der Blick auf Lee | |
Friedlanders Werk scharfgestellt werden konnte. Indirekt und vertrackt in | |
der formalen Konstruktion – nicht nur eines Bildes, sondern auch einer | |
Serie –, galt seine Arbeit lange als formalistisch. Das aber ist falsch. In | |
seinen Motiven ist Friedlander seit Ende der 50er Jahre an Kernthemen dran | |
gewesen: an der musikalischen Kultur von New Orleans, an den | |
problematischen Denkmälern der Südstaaten, an der kommerzialisierten | |
Stadtlandschaft, den Arbeitsplätzen von den Industrien bis zum Call Center; | |
an klassischen Themen auch wie Familie, Akt, Porträt und Landschaft. Aber | |
in unklassischer Weise. | |
Seine Technik ist dabei seine Ästhetik und diese ist sein Blick und der | |
Blick ist die Deutung, und die Deutung macht genau dort halt, wo der | |
soziale Kommentar einsetzt. Das heißt, Friedlanders Bilder sind | |
vielschichtig. Ihr fotografisches Subjekt hat mehrere Kammern des | |
Bewusstseins durchlaufen, bevor es ans Licht tritt oder ans Licht gezerrt | |
wird, sodass die Betrachter(innen) seiner Bilder einen Schmerz oder | |
Phantomschmerz in sich spüren, wie Platon es beschrieben hat, wenn man aus | |
einem Trugbild gerissen und von der Freiheit der Wahrnehmung geblendet | |
wird. Friedlanders Fotografien zielen verwegen auf ein freies und mündiges | |
Publikum. | |
## Gemütliche Unbehaustheit | |
Etwa in der Mitte des Rundgangs in der Lee-Friedlander-Retrospektive bei | |
C/O Berlin findet man ein zentrales Bild, aufgenommen (obwohl | |
„wahrgenommen“ es besser treffen würde) an der Straßenkreuzung einer | |
namenlosen Avenue und der 12. Straße von „Albuquerque, New Mexico“ an einem | |
heißen Tag im Jahr 1972. Es zeigt einen Hochhausblock, ein koloniales | |
Wohnhaus, den „Galgen“ der amerikanischen Ampel, eine weitere | |
(freistehende) Ampel, einen schiefen Telefonmasten aus Holz und einen | |
Feuerhydranten – das alles fast oder nahezu vollständig. Dazu einen weißen | |
Straßenkreuzer, nur soeben angeschnitten, das schraffierte Pflaster der | |
Straße selbst, aus Backsteinen gelegte und betonierte Gehwege, Unkraut, | |
Bäume in der Distanz, einen Himmel ohne jede Kontur. Das Bild hat überhaupt | |
keine Leserichtung, ist geradezu erschreckend ausbalanciert, wenn man | |
bedenkt, dass niemand diese Ansicht jemals geplant haben kann. Es ist die | |
eines Fotografen ganz allein, ja es ist tatsächlich niemand zu sehen. Ein | |
sitzender schwarzer Hund mit herausgestreckter Zunge. Aber auch dieser ist | |
eingewoben ins Bildgitter, quasi durchgestrichen von einem vertikalen | |
grauen Balken, einer schmalen, nackten Eisenstange. | |
Diese Fotografie ist beobachtend, analytisch, laid-back, unsentimental. Sie | |
hängt sich nicht an das, was konsensbildend wirkt: das Schöne, das Rare, | |
das Prominente, das Narrativ. Insofern verkörpert sie nordamerikanische | |
Befindlichkeiten: die gemütliche Unbehaustheit, das Sich-Einrichten im | |
Ephemeren, die verspielte Freude an Nebensächlichem. Fotografen erklären | |
sich das gern mit der eigenen Chronik, in der Nachfolge des kühnen Werks | |
von Walker Evans zum Beispiel. Aber das alles ist viel zu eng. Gewiss hat | |
Friedlander, so kurios das klingt, die Musik Charlie Parkers die Augen | |
geöffnet. Er ist ein Leser Prousts, also einer Literatur der Indirektheit | |
mit gewaltigen gesellschaftlichen Implikationen. Und Friedlander war ein | |
enger Freund des Malers Kitaj, dessen Bilder aus einem tiefen Sinn für die | |
Gleichzeitigkeit des Unvergleichlichen gespeist sind. | |
Lee selbst verkörpert den all American guy, der – die Augen groß und das | |
Kinn fliehend – als Schatten, als Voyeur, als Mann im Rückspiegel durch das | |
eigene Werk geistert, anfangs ein schlichter Mime und gegen Ende ein (gegen | |
sich selbst) rücksichtsloser Clown. Wenn man ihm begegnet und ihn etwas | |
fragt, zuckt er mit den Schultern, so als hätte er von Matisse oder | |
Bonnard, von Strukturalismus oder Postmoderne noch nie etwas gehört. Er ist | |
der Mann mit einer Frau – Maria –, einer Familie, einem Haus (in New City, | |
New York), und (früher) einem eigenen Verlag. Gehätschelt von einem Museum, | |
dem Museum of Modern Art. | |
## Jüdischer Hintergrund | |
Geboren wurde Lee Friedlander 1934 als Sohn eines Holz- und | |
Mineralienhändlers an der Westküste, der mit dreizehn Jahren, soeben vor | |
dem Ersten Weltkrieg, aus Breslau gekommen war; aus Fritz wurde Fred. Von | |
dessen vier Schwestern überlebte nur eine den Holocaust. Sie kam in | |
Aberdeen, Washington, an, als Lee selbst dreizehn war. Der jüdische | |
Hintergrund wird gern übersehen, ist aber wichtig, auch um Friedlanders | |
Nähe zu den schwarzen Amerikanern zu verstehen. Eine Weile, als ganz junger | |
Mann, war er Coverfotograf für Atlantic Records. Von ihm stammt das | |
eindringliche, ungekünstelte Doppelporträt von Milt Jackson im Vordergrund | |
und Ray Charles leicht unscharf hinter ihm. | |
Dieses Frühwerk, in Farbe, hat in gut gemachten, zeitgenössischen | |
Pigmentdrucken in diese Ausstellung gefunden. Der große Rest, das | |
schwarzweiße Werk, sind echte Vergrößerungen aus der Dunkelkammer. Zu jeder | |
Werkgruppe gibt es eine aus der Wand schwebende Vitrine mit dem Buch dazu. | |
Tatsächlich ist fast das gesamte Werk in Büchern niedergelegt, | |
projektorientiert bis circa 2000, dann – etwas simpler – retrospektiv nach | |
Themen oder Motiven. Wie immer bei C/O Berlin sind die Räume in | |
unterschiedlichen Farben gestrichen, und die Beleuchtung wurde so | |
eingerichtet, dass die Bilder leuchten, während die Säle selbst dunkel | |
sind. | |
Bei solcher Feierlichkeit fällt umso stärker ins Gewicht, dass die | |
Fotografien nicht dem Standard gemäß gerahmt sind. Es wurde ein Mattglas | |
verwendet, das es im musealen Bereich seit einem halben Jahrhundert nicht | |
mehr gibt, und zwar deshalb, weil der gewisse Effekt von Entspiegelung | |
durch einen Verlust an Brillanz mehr als nur nivelliert wird. Man nimmt | |
jetzt ein hochgradiges UV-Glas von einem litauischen Produzenten. Geliefert | |
hat die Bilder in dieser Form die Madrider Mapfre, die über die Jahre | |
wesentliche Bildgruppen Friedlanders angekauft hat. | |
Mit einfachem Glas gerahmt, also ohne Verlust anzuschauen, sind: | |
„Albuquerque, New Mexico“; das Porträt Aretha Franklins im ersten Saal; | |
„New Orleans, Louisiana“ aus der Serie „Sticks & Stones“, „Near Missa… | |
aus „Western Landscape“ und das Porträt Sandra Fishers im letzten Saal. Da | |
ahnt man etwas von der „offenen Anmut und Sinnlichkeit“ dieser Fotografie, | |
die ein Kurator namens Peter Galassi vor Jahren so benannt hat. Man müsste | |
die Ausstellung drei Tage schließen und die Bilder neu rahmen. Der | |
Buchladen sollte die lieferbaren Bücher – es sind ungefähr zwanzig – bei | |
sich auslegen. Zurzeit führt er nur den spanischen Katalog in der | |
englischen Fassung. | |
Lee Friedlander, Retrospektive, C/O Berlin, bis 3. Dezember. | |
13 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Ulf Erdmann Ziegler | |
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