# taz.de -- Anorektische Puppen | |
> Aufgrund ständig steigender Mieten sind Neugründungen von Galerien selten | |
> geworden in Berlin. Pauline Seguin hat es gewagt unter dem vieldeutigen | |
> Namen „Heidi“. Die erste Ausstellung gilt den Puppen von Will Sheldon | |
Bild: Blick in die Ausstellung „My small Super Star“ von Will Sheldon bei H… | |
Von Kito Nedo | |
Kaum zu glauben, dass Heidi mal als einfache literarische Figur geboren | |
wurde. Irgendwann verwandelte sich das lebensfreudige Alpenmädchen, | |
ursprünglich erfunden von der Schweizer Autorin Johanna Spyri am Ende des | |
19. Jahrhundert, in ein globales Phänomen, das sich in ganz | |
unterschiedlichen kulturellen Kontexten wie von selbst immer wieder neu | |
erzählt. Als Pauline Seguin vor einiger Zeit nach einem Namen für ihre neu | |
zu gründende Galerie suchte, landete sie irgendwann bei „Heidi“. Voilà! | |
Überall auf der Welt verbinden Menschen etwas mit diesen fünf Buchstaben. | |
Doch es ist immer auch etwas anderes. Vielleicht ließe sich auch sagen: | |
Dieser Name ist bedeutungsvoll und zugleich bedeutungsleer. Eine | |
mehrdeutige Hülle für die eigenen Inhalte. | |
Seit Mitte September gibt es nun die Heidi Galerie in Berlin. Die | |
Ausstellungen finden in einem ehemaligen Ladengeschäft an der | |
Kurfürstenstraße statt, ganz in der Nähe der Potsdamer Straße, der Berliner | |
Galeriemeile. In den Neunzigern war hier ein Einrichtungshaus | |
untergebracht. Nach dessen Schließung standen die großzügigen Ladenräume | |
mit den bodentiefen Schaufenstern über zwanzig Jahre leer. | |
Diese Geschichte ist sichtbar geblieben, weil Pauline Seguin hier keinen | |
weiteren aseptischen „White Cube“ eingerichtet hat. Im Gegenteil. Die | |
ehemalige Verkaufsfläche wurde lediglich gesäubert und minimal für die | |
aktuellen Ausstellungszwecke umgebaut. | |
Sie mag den Raum so, wie er ist, sagt die Galeristin. Tatsächlich erscheint | |
die unpolierte Atmosphäre als passender Rahmen für die dystopischen Bilder | |
des New Yorker Malers Will Sheldon, dessen Kunst Seguin nun erstmals in | |
Berlin präsentiert. | |
Der 1990 in Hongkong geborene Sheldon malt bevorzugt mit einer | |
Airbrush-Pistole, was seinen Oberflächen einen metallischen Schmelz | |
verleiht. Für die Schau mit dem Titel „My small Super Star“ hat sich der | |
Künstler von der hauptsächlich japanischen BJD-Community inspirieren | |
lassen. BJD ist die Abkürzung für „Ball-Jointed Art Dolls“, auf Deutsch | |
etwa „Kunstpuppen mit Kugelgelenken“. Um diese Puppen existiert eine rege | |
Szene von Sammler:innen, die sich über die sozialen Netzwerke vernetzt. | |
Was natürlich widersprüchlich klingt, denn eine stärkere Chiffre für | |
Einsamkeit als Erwachsene, die mit anthropomorphen Puppen spielen, ist | |
schwerlich vorstellbar. Unschwer ist der Einfluss des einzelgängerischen | |
Künstlers Hans Bellmer (1902–1975) zu erkennen. Bellmer, der 1934 im | |
Eigenverlag sein Künstlerbuch „Die Puppe“ veröffentlichte und 1938 von | |
Berlin nach Paris emigrierte, wurde nicht nur von den zeitgenössischen | |
französischen Surrealisten geschätzt, sondern inspirierte mehrere | |
nachkommende Generationen von Künstler:innen. | |
Zu diesen gehörte etwa der [1][Schweizer H.R. Giger], dessen | |
Alien-Cyborg-Pop-Art neuerdings eine Renaissance erfährt, oder auch die | |
US-Konzeptkünstlerin [2][Cindy Sherman], die in den Neunzigern Puppen und | |
Prothesen zu „Sex Pictures“ arrangierte und damit die Kunstwelt schockte. | |
Ein weiteres Kapitel schlug der britische Regisseur [3][Chris Cunningham | |
auf, als er für Björk] ein vielfach gefeiertes Video drehte. Doch die | |
unheimlichen Puppenbilder von Will Sheldon erscheinen weitgehend frei vom | |
Ballast kulturhistorischer Verweise. Sie zielen direkt auf die | |
empfindlichen Punkte der aktuellen Mensch-Puppen-Beziehungen. | |
Sheldon malt Puppen mit leer glimmenden Augenhöhlen und Körpern, die | |
Assoziationen von Mangelernährung aufrufen. Sie schweben zwischen Fetisch-, | |
Kitsch-, Schauer- und Schock-Ästhetik. | |
Bevor Seguin im September 2020 nach Berlin kam, arbeitete die 1990 geborene | |
Französin sieben Jahre lang für die renommierte New Yorker Galerie Gavin | |
Brown’s Enterprise (GBE). Der Brite Gavin Brown, der mit seiner 1994 | |
gegründeten Galerie international erfolgreiche Künstlerinnen und Künstler | |
wie Laura Owens, Avery Singer, Arthur Jafa, Mark Leckey, Urs Fischer, | |
Elizabeth Peyton oder Ed Atkins vertrat, gilt als ästhetisch visionär und | |
geschäftstüchtig. Brown stand für eine selbstbewusste Galerie-Philosophie, | |
welche die Kunst und die Künstler:innen ins Zentrum der Aktivitäten | |
stellte. Deshalb sorgte im Juli 2020 die überraschende GBE-Schließung nach | |
26 Jahren Betrieb für erhebliche Unruhe in der Kunstszene und wurde von | |
vielen Beobachter:innen als das Vorzeichen größerer Umwälzungen und | |
zunehmender Konzentrationsprozesse gedeutet. | |
Auch darum ist Heidis Ankunft in Berlin ein Glücksfall. Die Neugründungen | |
von jüngeren Galerien sind in den vergangenen Jahren deutlich ins Stocken | |
geraten. Die Gründe dafür sind offensichtlich; vor allem sind angesichts | |
der ständig steigenden Mieten bezahlbare Räume für Experimente | |
verschwunden. Doch will Berlin eine zeitgenössische Kunststadt bleiben und | |
nicht selbst zu einem riesigen Stadtmuseum werden, braucht es Orte, um | |
Künstler:innen Ausstellungsmöglichkeiten, Netzwerke und ökonomische | |
Perspektiven zu bieten. | |
Pauline Seguin hat ihre nächsten Ausstellungen bereits fest geplant. Die | |
Künstler:innen, mit denen sie zukünftig zusammenarbeiten wird, | |
„repräsentieren die nächste Generation“. Da ist sich die Galeristin siche… | |
Bis 30. Oktober, Heidi, Kurfürstenstr. 145, Do.–Sa., 11–18 Uhr | |
26 Oct 2021 | |
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## AUTOREN | |
Kito Nedo | |
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