# taz.de -- Schließlich sind auch Gebirge veränderlich | |
> „Niemand zwang mich an den Rand des Steilhangs“: Zsuzsanna Gahses | |
> assoziative Texte über ehrwürdige Bergmassive schweben und sind von einem | |
> feinen Witz durchfunkelt | |
Von Sabine Peters | |
Ruft das Matterhorn tatsächlich nach Menschen, um bestiegen zu werden? | |
Wollen die Alpen zu unserer Freude als Naturschönheiten auftreten? Oder | |
würde man aus ihrem Inneren vielmehr ein Knirschen und Ächzen hören, wenn | |
man einen Zeitraffer benutzen könnte? Berge dienen unter anderem als | |
Steinbrüche, Sportstätten und Touristenattraktionen, aber züchten kann man | |
sie nicht. Das ist kein Grund, sie gleich als Wohnstätten von Göttern zu | |
verehren; Lucius sagt, vor Bergen muss man nicht in die Knie gehen. Ruth | |
besucht auf ihren Wegen durch Gebirgslandschaften gern Kapellen, um Kerzen | |
für die Abgestürzten anzuzünden. Der Architekt Sam erklärt: Wenn er die | |
Alpen gebaut hätte, würden sie anders aussehen. Und die Ich-Erzählerin in | |
Zsuzsanna Gahses neuem Buch ist ohnehin nicht aufs Gipfelstürmen aus. Sie | |
fürchtet vielmehr, dass die schroffen Felsen nur stürzen wollen, um alles | |
mit sich zu reißen. Aber sie nimmt die Wörter gern beim Wort und sagt: | |
„Besonders gefällt mir an den Bergen, dass sie bergen.“ | |
Zsuzsanna Gahse wurde 1946 in Budapest geboren; ihre Familie floh 1956 nach | |
dem Ungarnaufstand in den Westen. Die Schriftstellerin lebt heute nach | |
verschiedenen anderen Stationen im Schweizer Thurgau. Seit 1983 arbeitet | |
sie an einem sprachlich unverwechselbaren Werk, das in aller | |
Eigenwilligkeit doch niemals abgedichtet oder unverrückbar wirkt, sondern | |
vielmehr höchst vielstimmig und beweglich daherkommt. Buchtitel wie | |
„Instabile Texte“ oder „Südsudelbuch“ – der Sudel steht für den fl�… | |
Entwurf und für das Schmieren – verweisen auf die Lust am Experimentieren | |
und am Vermischen. | |
Schreiben ist für Gahse eine Möglichkeit, eingefahrene Wahrnehmungs- und | |
Denkschienen zu verlassen und in alle Richtungen auszuschweifen. Die | |
Gebirge, die sie im neuen Buch umkreist, sind schließlich auch keine | |
unveränderlichen Größen. Die Ich-Erzählerin sagt sich bei einer ihrer | |
Bergtouren: „Dem erodierenden Giganten in der Ferne passiert etwas | |
Bergisches.“ Klar; er ist kein Tier, dem etwas Tierisches widerfährt. | |
Manche Felsen, mit Zement gekittet, sehen allerdings gebändigt aus. Die | |
Erzählerin will zwar nicht, dass weitere Kerzen für erschlagene | |
Zeitgenossen angezündet werden, aber ihre Menschenliebe hat Grenzen. Denn | |
sie begegnet auf diversen Bergpässen häufig adrenalinsuchenden | |
Autofahrern, „Kurvenangebern“ oder ganzen Herden von Bussen, die wie im | |
Gänsemarsch und unter dem Juchhei der Insassen durch die Gegend lavieren. | |
Der skeptische Blick auf allerhand sonderbare Verhaltensweisen schließt die | |
eigene Person ein; Zsuzsanna Gahse steht nicht über dem menschlichen | |
Gewimmel, um die Phänomene abgeklärt aus weisem Abstand zu bewerten. | |
Die heute 75-jährige Schriftstellerin hat in ihrem Schreiben Eigenschaften | |
behalten und entwickelt, die an Kindheit und Jugend erinnern: Neugierde, | |
Unbefangenheit, Lust am Erproben, Freude am Spiel. Dabei ist das Buch weit | |
entfernt von Naivität und Erfahrungsmangel. Denn die Hauptfiguren tragen | |
schließlich ihre eigenen, unsteten Lebensgeschichten mit sich. In ihren | |
Augen wird etwa eine bergische „Heimat“, die ein fest verwurzelter | |
Einheimischer mit Zähnen und Klauen gegen wandernde Fremde verteidigt, zu | |
einem „Unheim“. Und über den Inhalt hinaus zeigen Stil und Konstruktion | |
dieses fragilen, diffizilen Textes, wie erfahren und hellhörig die Autorin | |
mit ihrem Material, der Sprache umgeht, ohne dabei routiniert zu wirken. | |
Bei der im besten Sinne vertrackten Lektüre dieser 500 Notizen lässt sich | |
an ein kubistisches Bild denken: Nicht ein einziges Motiv beherrscht das | |
Ganze und lenkt den Blick, sondern dies Ganze zählt, wie lose dessen | |
Details auch immer miteinander verbunden sein mögen. In kubistischen | |
Bildern bleiben die Dinge übrigens auch nicht an ihrem gewohnten Platz; da | |
findet sich etwa ein Ohr anstelle eines Auges – und entsprechend flexibel | |
sind auch bei Gahse die Erscheinungen, Wahrnehmungen und Reflexionen. Die | |
Erzählerin und Sam spielen gelegentlich mit der Idee eines Archivs oder | |
begehbaren Tagebuchs, in dem sich allerhand Beobachtungen unterbringen | |
ließen. Aber bei ihnen würde solch ein Ort immer eine Baustelle bleiben. | |
Gahses Figuren gehen der Nase nach, vertrauen ihren Assoziationen, lassen | |
sich auf Naheliegendes und Entlegenes ein; daher findet man hier auch | |
Erinnerungen an Gebirge in Kunst und Literatur aller Zeiten und Gegenden. | |
Diese Prosa kommt schwebend leicht daher, sie ist von einem feinen Witz | |
durchfunkelt und doch alles andere als gefällig. Wie nebenbei sagt der | |
Text: Auch die Berge sind Gegenden, in denen sich die individuelle und | |
allgemeine Verletzbarkeit zeigt. Kein Fels und keine Gesellschaft und kein | |
Mensch wächst immer weiter und befindet sich im ewigen Steigerungsmodus. | |
Das Nachdenken über unsere Begrenztheit und Endlichkeit muss weder | |
andächtig noch zynisch machen – hier bleibt es ein Stachel. | |
19 Oct 2021 | |
## AUTOREN | |
Sabine Peters | |
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