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# taz.de -- Zweckoptimismus in Belarus: „So lange werden sie nicht sitzen“
> Was sagen Belaruss*innen über lange Haftstrafen? Und wer schafft das
> neue Belarus? Janka Belarus über stürmische Zeiten in Minsk. Folge 103.
Bild: Maria Kolesnikowa vor Gericht in Minsk am 6.September
Nachdem das Urteil gegen die Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa (11
Jahre Haft) und den Anwalt Maxim Snak (10 Jahre Haft) verkündet worden war,
sagten viele Belaruss*innen: „So lange werden die nicht sitzen müssen.“
Diese Aussage finde ich ungeheuerlich. Wie lange werden sie sitzen? Wie
lange darf man überhaupt in Gefangenschaft sein? Warum sollten sie wohl
nicht ihre gesamte Haftstrafte absitzen müssen? Es ist durchaus möglich,
dass sie sie absitzen werden.
Einige urteilen hier einfach über das Leben anderer Menschen, als ob nicht
jede Sekunde, die man in der warmen Atmosphäre nahestender Menschen
verbringt, wertvoll wäre. [1][Im Gefängnis kannst Du nicht einfach eine
gute Tasse Kaffee mit jemandem trinken], ein warmes Bad nehmen, dich
einfach mal in eine gemütliche Decke kuscheln. Im Gefängnis wird nachts
sogar das Licht abgestellt, mitten in der Nacht wird man geweckt, es gibt
harte Betten, Zigarettenqualm – und ein Stückchen Himmel durchs Fenster.
Man kann [2][die Ausdauer der Oppositionellen und Gefangenen bewundern, sie
unterstützen, sie nicht vergessen, aufmunternde Briefe schreiben], aber man
sollte niemals denken, dass ein Tag im Knast nichts Schlimmes sei. Denn
unser Tag in Freiheit – das sind tausend Farben, das sind Umarmungen, die
Möglichkeit zu Telefonaten, das sind die vielen kleinen Alltäglichkeiten,
bei denen es eigentlich um nichts geht – und doch um alles…. Man stiehlt
uns nicht einfach unsere Freiheit. Gefängnistage sind nicht gelebte Tage.
Die niemals wiederkehren.
## Vom Glück im Gefängnis
Tatjana aus Minsk erzählt über die 15 Tage, die ihr Mann im Gefängnis
verbracht hat: „Mein Mann sagt, er habe Glück gehabt. Er wurde nicht
geschlagen, bekam etwas zu essen und es gab sogar Matratzen, auf denen er
sitzen konnte…. Seine Covid-19-Infektion war nur eine leichte. Naja, um
ehrlich zu sein: Er hat die Krankheit von dort mitgebracht und ich bin dann
schwer erkrankt…. Mein Mann hat auch seinen Job nicht verloren, im
Gegenteil, er wurde bei der Rückkehr auf der Arbeit wie der `Mann des
Jahres` empfangen. Deshalb denkt er, er habe `Glück gehabt`.“
Aber diese Definition ist doch eigentlich falsch, denn es ist doch genau
andersherum. Es ist nicht normal, seinen Gefängnisaufenthalt als eine Art
Abenteuer für die Freiheit anzusehen.
Das neue Sprichwort: „Wer nicht gesessen hat, ist kein Belarusse“ ist nicht
lustig, sondern schrecklich. Wir gewöhnen uns an Dinge, die nicht
akzeptabel sind.
Wenn wir sagen: „So lange werden sie nicht sitzen“, scheinen wir die
Verantwortung abzulehnen. Wir klopfen uns auf den Schulter und flüstern uns
selbst beruhigend zu: „Mach dir keine Sorgen, so lange werden sie nicht
sitzen müssen.“
Fast so, als ob denen, die das sagen, in dem Moment nicht so wichtig ist,
wie lange diese Menschen tatsächlich im Gefängnis verbringen werden.
Wichtig ist nur, diese Last abzuwerfen. Möglichst schnell. „10 Jahre, so
lange werden sie nicht sitzen müssen“. Und mir scheint, das ist das
Allergefährlichste. So ein „lächelndes Gefühl“ optimistischer Vorhersage…
„sie werden nicht sitzen“. Einzig: damit das alles irgendwann vorbei geht,
muss man weiter kämpfen. Aber wozu kämpfen, wenn doch „sicher sowieso alles
gut wird“. Nur wann? Und wie?
## Wer wird das Neue Belarus schaffen? Und wie?
Kommt ein Zauberer angeflogen, murmelt irgendeinen Zauberspruch und aus dem
jetzigen Belarus, voller Schmerzen und Alpträume, wird ein schönes Neues
Belarus, wo das Geld an den Bäumen wächst und alle Brüder und Schwestern
sind? Wenn wir nicht weiter kämpfen, akzeptieren wir die Deformationen
unseres Bewusstsein, aber ein Neues Belarus werden wir nicht erleben. Die
nächsten Wahlen werden genauso gefälscht, in fünf bis zehn Jahren sind die
Nachfolger Lukaschenkos herangewachsen und alles geht wieder von vorne los.
Wir müssen ehrlich zugeben, dass die Proteste heute praktisch völlig
unterdrückt werden. [3][Wer nicht im Knast saß, tut alles mögliche, um
außer Landes zu kommen.] Kommen diese Leute wieder zurück? Das kann man
nicht mit Gewissheit sagen. Wer wird das Neue Belarus schaffen, wenn im
Land keine leidenschaftliche Menschen mehr im Land gibt? Lukaschenko führt
im Land jetzt ein unmenschliches Experiment am Volk durch.
Aber wenn der amerikanischen Psychologe Martin Seligman 1967 Hunde quälen
und sie so zwingen konnte, sich an das Unvermeidliche zu gewöhnen, dann
kann man diese „erlernte Hilflosigkeit“ (learned helplessness, ein Begriff,
den Martin Seligmann mit seinen Experimenten an Hunden prägte, Anm. der
Redaktion) heute, im Jahr 2021, bei der Entstehung bedingter Reflexe beim
Menschen beobachten. Und das ist eindeutig ein Verbrechen gegen die
Menschlichkeit. Die Menschen müssen selber über ihr Leben entscheiden,
Wahlmöglichkeiten haben, ihre eigene Kompetenz spüren dürfen.
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey]
28 Sep 2021
## LINKS
[1] /Inhaftiert-in-Belarus/!5758672
[2] /Solidaritaet-in-Belarus/!5768038
[3] /Flucht-aus-Belarus/!5776111
[4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Janka Belarus
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