Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Immer wieder Deutschland
> Rassismus in Deutschland: Eine Ausstellung am Gorki-Theater widmet sich
> den offenen Fragen rund um den NSU-Komplex und weiteren rassistischen
> Gewalttaten in Deutschland
Bild: Am Gorki-Theater sind Kunstwerke und Dokumente zu sehen, die sich mit den…
Von Sabine Weier
Für eines der drängendsten Probleme in Deutschland, den strukturellen
Rassismus, war im Wahlkampf 2021 kein Platz. Und das, obwohl dieser mit dem
60-jährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens mit der Türkei zusammenfiel. Bis
zum Anwerbestopp durch die sozialliberale Regierung Brandt, unter anderem
infolge der Ölkrise 1973, kamen mehr als eine halbe Million Türkinnen und
Türken zum Arbeiten nach Deutschland. Die meisten blieben. Hier leben sie
bis heute gefährlich.
Nach dem Ende des Münchner NSU-Prozesses bleiben wichtige Fragen offen.
Aber anstatt die Aufklärung der Morde an vor allem türkischstämmigen
Männern voranzubringen, beteiligt sich der Staat weiter an deren
Vertuschung: Die hessischen NSU-Akten etwa bleiben unter Verschluss. In der
Reihe Berliner Herbstsalon am Gorki-Theater sind nun Kunstwerke und
Dokumente zu sehen, die sich mit den Kontinuitäten rassistischer Gewalt in
Deutschland und mit der Rolle der Staatsapparate im Dickicht des
NSU-Komplexes beschäftigen.
Die Schau ist Teil des von Hannah Zimmermann und Jörg Buschmann geleiteten
Projekts „Offener Prozess – NSU-Aufarbeitung in Sachsen“ an der TU Dresde…
wo Studierende Formate zur Aufarbeitung der Geschehnisse entwickeln. In der
Ausstellung zeigen sie unter anderem eine wachsende interaktive Karte, die
den NSU-Komplex in Tatorten und sozialen Verbindungslinien nachzeichnet.
Mit migrantischen Realitäten in Sachsen, wo die Mitglieder des NSU über 13
Jahre untertauchen konnten, beschäftigen sich viele der künstlerischen
Beiträge. Einem Film Želimir Žilniks aus dem Jahr 1975, für den er in einem
Münchner Wohnhaus Gastarbeiter:innen vor die Kamera treten ließ, steht
ein aktuelles Remake von Pınar Öğrenci gegenüber: Die Künstlerin hat die
Kamera in einem Haus in Chemnitz aufgestellt, vor der die
Bewohner:innen nun Geschichten aus der Gegenwart erzählen. Tanh Nguyen
Phoungs Film „Sorge 87“ blickt in die Vergangenheit: Sie erzählt von den
Erfahrungen ihrer Eltern, die als vietnamesische
Vertragsarbeiter:innen in die DDR kamen, um in den Werdauer
Textilfabriken zu arbeiten.
Per Audio abrufbar ist eine szenische Lesung der Initiative 12. August. Sie
erinnert an die brutale rassistische Hetzjagd im sächsischen Merseburg im
Jahr 1979, die im Tod der kubanischen Vertragsarbeiter Raúl Garcia Paret
und Delfin Guerra durch Ertrinken in der Saale mündete. Die Youtuberin
Socills widmet sich in einem Video den Details um den noch immer nicht
aufgeklärten Fall Oury Jallohs, der als Ayslsuchender aus Sierra Leone
gekommen war und 2005 gefesselt in einer Dessauer Polizeizelle verbrannte.
Dem Kurator:innenteam Ayşe Güleç und Fritz Laszlo Weber geht es in der
Ausstellung vor allem darum, migrantisch situiertes Wissen zu vermitteln,
das in der deutschen Gesellschaft ignoriert und übergangen werde.
Exemplarisch dafür steht die Dokumentation der Demonstration „Kein 10.
Opfer“ aus dem Jahr 2006 in Kassel. Mit Schildern wie „Schläft der
Innenminister?“ verwiesen Angehörige der NSU-Opfer schon auf eine
Terrorserie, als die Polizei noch gegen sie selbst ermittelte.
Zum Ort der Auseinandersetzung macht die Ausstellung schon allein ihr
Display: Auf Bänken sitzen Besucher:innen den auf Tischen platzierten
Videoarbeiten und deren Protagonist:innen direkt gegenüber. Etwa Ülkü
Süngün, die wie eine Nachrichtensprecherin vor der Kamera positioniert ist
und ein Aussprechtraining zu den Namen der zehn Opfer des NSU durchführt.
Per Knopfdruck lassen sich Audiodeskriptionen abrufen oder die Sprache der
Untertitelungen wechseln – wie im Begleitheft wird auch Türkisch angeboten.
Der Kritik an einer fehlenden Gedenkkultur geben Güleç und Weber ebenfalls
Raum. Die Initiative Herkesin Meydanı setzt sich in Köln für die Errichtung
eines Mahnmals für die Opfer der Bombenanschläge des NSU ein. Umgesetzt
werden soll eine Idee des Künstlers Ulf Aminde, die als Modell gezeigt
wird: Über einer Bodenplatte im Grundriss des Friseurgeschäfts, vor dem
eine der Bomben explodierte, soll per Augmented-Reality-App ein wachsendes
virtuelles Haus mit digitalen Beiträgen zu Rassismuserfahrungen abrufbar
sein.
Realisiert wird das Mahnmal vorerst nicht: Die Grundstückseigentümer
blockieren die Errichtung, die Stadt Kassel sperrt sich weiter gegen die
Forderung, die Holländische Straße, in der Halit Yozgat in seinem
Internetcafé getötet wurde, in Halitstraße umzubenennen. Das ist in einem
der „Tribunal Spots“ der Gruppe „Tribunal NSU-Komplex auflösen“ zu
erfahren.
Dass es überhaupt eine Öffentlichkeit für rassistische Gewalttaten im Land
gibt sowie die Erkenntnis, dass diese Teil eines Kontinuums rechter Gewalt
seit 1945 und keine Einzelfälle sind, ist vor allem zivilgesellschaftlichen
Gruppen, Aktivist:innen, Theatermacher:innen, Künstler:innen und
Initiativen der Angehörigen von Opfern selbst zu verdanken. Im von Yunus
Ersoy und Edona Kryeziu organisierten Rahmenprogramm „‚61–’91–’21 �…
wieder Deutschland“ kommen sie noch bis Ende November in zahlreichen
Veranstaltungen im Gorki zu Wort.
5 Oct 2021
## AUTOREN
Sabine Weier
## ARTIKEL ZUM THEMA
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.