# taz.de -- Im Hintergrund | |
> Die rund 7,6 Millionen wahlberechtigten Menschen mit | |
> Einwanderungsgeschichte könnten die Wahl entscheiden. Verwunderlich, wie | |
> wenig sich die Parteien gezielt um diese Gruppe bemühen | |
Von Ralf Pauli | |
Die politischen Kommentator:innen sind sich einig: Die Performance der | |
Kanzlerkandidat:innen Laschet, Scholz und Baerbock entscheidet die | |
Wahl – und wer Kanzler wird, FDP-Chef Lindner. Die Organisation Citizens | |
for Europe vertritt eine andere These: Menschen mit Migrationsgeschichte | |
hätten das Potenzial, die Wahl zu entscheiden. Zwar sind nur knapp die | |
Hälfte von ihnen wahlberechtigt – 7,7 Millionen Menschen bilden aber | |
dennoch eine beachtliche Wählergruppe. Am 26. September vergeben sie 12,2 | |
Prozent der Stimmen. | |
Was sie damit bewirken können, hat Citizens for Europe zusammen mit der | |
Cornell University und der Universität Chemnitz errechnet: Würden | |
Menschen mit Einwanderungsgeschichte geschlossen für die gleichen | |
Kandidat:innen stimmen, könnten sie rechnerisch in 167 von 299 | |
Wahlkreisen entscheiden, wer das Direktmandat holt. In diesen Kreisen haben | |
sie mehr Stimmen, als bei der letzten Bundestagswahl zwischen Erst- und | |
Zweitplatziertem lagen. | |
Auch über die Zweitstimme haben Menschen mit Migrationsgeschichte Einfluss | |
– er wird nur kaum sichtbar. Gemäß ihrem Stimmenanteil müssten im Bundestag | |
87 Sitze auf sie entfallen. Aktuell sind es 58. „Bei Menschen mit | |
Einwanderungsgeschichte gibt es eine große Repräsentationslücke“, sagt | |
Deniz Yıldırım-Caliman von Citizens for Europe. | |
Die mangelnde Repräsentation dürfte ein Grund für die mäßige | |
Wahlbeteiligung in der Vergangenheit sein. Bei der Bundestagswahl 2017 lag | |
sie mit 61 Prozent 15 Prozentpunkte niedriger als bei Menschen ohne | |
Migrationsgeschichte. Ob es dieses Mal besser wird? Zweifel kommen von der | |
Türkischen Gemeinde Deutschlands (TGD). Nicht nur, weil Themen wie | |
Rassismusbekämpfung oder Chancengerechtigkeit im Wahlkampf bisher kaum eine | |
Rolle spielten. „Wir sind einigermaßen erschüttert, wie gering das | |
Interesse bei manchen Parteien an Integrationsthemen ist“, sagt der | |
Co-Vorsitzende Atila Karabörklü. | |
Mehr als 1.600 Direktkandidat:innen hat die Türkische Gemeinde | |
befragt. Sie alle haben einen Katalog mit 28 Fragen und Forderungen rund um | |
die Einwanderungsgesellschaft bekommen. Am Donnerstag stellte sie ihre | |
Ergebnisse vor. Allein der Rücklauf sei aufschlussreich gewesen, so | |
Karabörklü: Lediglich 21 Direktkandidat:innen von CDU/CSU antworteten | |
auf die Fragen, sogar bei der AfD waren es mit 24 mehr. Am höchsten war der | |
Rücklauf bei den Grünen, von denen 209 Direktkandidat:innen | |
antworteten, gefolgt von Linken (187), SPD (143) und FDP (129). | |
Aussagekräftiger ist jedoch, was die Politiker:innen in Sachen | |
Integration antworteten. Wenig überraschend sprechen sich Grüne, SPD und | |
Linke (und teils die FDP) mit großer Mehrheit für das kommunale Wahlrecht | |
für alle, geringere Hürden bei der Einbürgerung oder unabhängige | |
Beschwerdestellen für Diskriminierungen im Kontext Schule aus. | |
Ein Ministerium für die Gestaltung der Einwanderung wollen mehrheitlich nur | |
Grüne und Linke, eine Quote für Migrant:innen im öffentlichen Dienst nur | |
die Direktkandidat:innen der Linkspartei. Die Kandidat:innen von | |
Union und AfD verneinten viele der 28 Fragen. Bei der Forderung nach | |
unabhängigen Beschwerdestellen für Schüler:innen und leichterer | |
Einbürgerung ist die Union immerhin unentschieden. Auch anderen | |
Streitfragen, etwa der Forderung nach einem Antidiskriminierungsgesetz auf | |
Bundesebene oder nach dem Ausbau der Rassismusbekämpfung stehen | |
Kandidat:innen von CDU/CSU ablehnend oder gleichgültig gegenüber. | |
Das ist zwar nicht überraschend, wenn man in die Wahlprogramme der Parteien | |
guckt. Überraschend ist eher, dass die Union in der Gunst vieler | |
Wähler:innen aus migrantischen Communitys trotzdem zuletzt zulegen | |
konnte. Zwar haben türkischstämmige Wähler:innen bei der letzten | |
Bundestagswahl am häufigsten ihr Kreuz bei der SPD gesetzt. Der regelmäßige | |
Integrationsbarometer des Sachverständigenrats für Integration und | |
Migration (SVR) belegt aber: Betrachtet man die Wahlabsicht aller Menschen | |
mit Migrationsgeschichte, landet die Union seit der letzten Bundestagswahl | |
deutlich vor der SPD. | |
Aziz Bozkurt, Bundesvorsitzender der AG Vielfalt in der SPD, ist sich | |
sicher, dass der Aufwind für seine Partei auch bei migrantischen Communitys | |
ankommt. Inhaltlich mache seine Partei, wie Grüne und Linke, Menschen mit | |
Einwanderungsgeschichte mittlerweile gute Angebote. „Die müssen wir aber | |
auch nach der Wahl umsetzen“, sagt Bozkurt der taz. Vor allem aber müsse | |
die deutsche Einwanderungsgeschichte endlich auch im Kabinett sichtbar | |
werden – egal welche Parteien dort vertreten sein werden. | |
10 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Ralf Pauli | |
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