# taz.de -- Im Rhythmus der Solidarität | |
> Die Theaterwerkstatt Kuringa arbeitet mit Augusto Boals Methoden des | |
> „Theaters der Unterdrückten“. Dabei geht es auch um Empowerment | |
> marginalisierter Gruppen | |
Bild: Bárbara Santos | |
Von Inga Dreyer | |
Zehn Schauspieler*innen raunen im Chor „Soli-dari-té“, die Silben | |
unterbrochen von rhythmischem Schnipsen und Stampfen. Schritt für Schritt | |
tasten sie sich zur Mitte der Bühne vor, tauchen in lauter werdende Stimmen | |
und schnellere Bewegungen ein. Spielerisch zerpflücken sie den Begriff der | |
Solidarität und präsentieren dem imaginären Publikum Einzelteile, die sich | |
erst im Kopf zu einem Ganzen zusammensetzen. | |
Es ist der vierte Tag der Probenwoche in den Uferstudios in Berlin-Wedding. | |
Innerhalb von sechs Tagen entwickeln die Schauspieler*innen unter der | |
künstlerischen Leitung von Bárbara Santos und der musikalischen Leitung von | |
Till Baumann das Stück „Signs of Solidarity“, das am Montagabend das | |
Festival „Aesthetics of Solidarity“ eröffnen wird. Mit dem siebentägigen | |
Programm feiert die Weddinger Theaterwerkstatt Kuringa ihr zehnjähriges | |
Bestehen. Eingeladen sind internationale Produktionen, die mit Methoden | |
von Augusto Boal (1931–2009) arbeiten. Der brasilianische Regisseur, Autor | |
und Theoretiker hat das „Theater der Unterdrückten“ entwickelt, bei dem es | |
darum geht, gesellschaftlich relevante Themen auf die Bühne zu bringen und | |
mit dem Publikum zu verhandeln. Bárbara Santos hat in ihrem Heimatland | |
Brasilien zwanzig Jahre lang mit ihm zusammengearbeitet. | |
An diesem Probentag trägt sie ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Körper als | |
politischer Raum.“ Sie geht auf die Bühne und bewegt ihre Arme in der Luft, | |
um den Schauspieler*innen zu zeigen, was sie meint: ein bisschen mehr | |
Dynamik. Noch eine Wiederholung, dann Pause. | |
Die Schauspieler*innen strömen auf den Hof vor den lang gezogenen | |
Backsteingebäuden, die die Uferstudios beherbergen. Bárbara Santos holt | |
sich einen Kaffee, setzt sich in den Schatten und erzählt. Ausgangspunkt | |
der Produktion ist die Frage, was Solidarität angesichts der Erfahrungen in | |
der Pandemie bedeutet. „Ein herausforderndes Thema“, sagt Santos. Denn auch | |
Rechte beanspruchten den Begriff für sich. „Wir versuchen ihn | |
zurückzuerobern.“ | |
Angesichts der Krise und um sich greifender Fake News befänden sich alle | |
Menschen in derselben Situation. Andererseits aber entschieden sich Länder | |
für unterschiedliche Maßnahmen und Kommunikationsstile. Manche Regierungen | |
nutzen die Krise, um ihre Politik durchzusetzen, sagt Santos. Verschiedene | |
Wahrnehmungen der Coronazeit treffen bei „Signs of Solidarity“ aufeinander. | |
Die Spielenden kommen aus Frankreich, Deutschland, Slowenien und | |
Großbritannien. „Die meisten von ihnen sind Künstler*innen“, sagt Santos. | |
Alle von ihnen hätten im sozialen Bereich mit Theater gearbeitet, seien | |
Pädagog*innen oder Aktivist*innen. | |
Im ersten Schritt hat die Gruppe sich über ihr Verständnis von Solidarität | |
ausgetauscht – in Diskussionen und mit künstlerischen Mitteln wie Malerei | |
und Bewegung. Es gehe nicht darum, bei allem auf einen Nenner zu kommen, | |
betont Bárbara Santos. „Wir brauchen Konflikte, um Theater zu machen. Wir | |
müssen sie verstehen und spielen.“ | |
Während der Aufführung wird die Auseinandersetzung weitergehen. Denn bei | |
der von Augusto Boal entwickelten Methode des Forumstheaters wird ein Thema | |
oder ein Konflikt zwar zunächst auf der Bühne inszeniert. Dann aber ist das | |
Publikum gefragt, Erfahrungen einzubringen und die Szene selbst spielend zu | |
gestalten. Forumtheater ist gleichzeitig eine Strategie des Empowerments | |
für marginalisierte Gruppen. Ausgangspunkt können beispielsweise Mobbing- | |
oder Rassismus-Erfahrungen sein. Durch die gemeinsame Auseinandersetzung | |
mit den Problemen soll sozialer Wandel ermöglicht werden. | |
Weltweit arbeiten Gruppen mit den Methoden von Augusto Boal. In den | |
Forumtheaterstücken aus Frankreich, Spanien, Deutschland und Schottland, | |
die beim Festival „Aesthetics of Solidarity“ gezeigt werden, geht es zum | |
Beispiel um Ausbeutung in Produktionsprozessen, um den Ausbruch aus | |
traditionellen Familienverhältnissen oder auch um Rassismus, der sich gegen | |
Roma und Sinti richtet. | |
Mit „Noises of the Silence“ zeigt Bárbara Santos eine Produktion, die sich | |
um Feministinnen dreht, die sich in den Fängen des Patriarchats befinden. | |
Viele trauen sich nicht, darüber zu reden, wenn sie sich in toxischen | |
Beziehungen befinden, erzählt die Theatermacherin. Beim Forumtheater sollen | |
Strategien entwickelt werden, das Schweigen zu beenden und Wege nach außen | |
zu öffnen. | |
Bárbara Santos ist ausgebildete Lehrerin und Soziologin. Sie hat sich in | |
Brasilien in der Arbeiterpartei engagiert, Augusto Boal kennengelernt und | |
ist so zum Theater der Unterdrückten gekommen. Nach Boals Methoden leitet | |
sie die Theaterwerkstatt Kuringa, aber die Ansätze haben sich im Laufe der | |
Zeit weiterentwickelt, erzählt Santos. Einer ihrer Schwerpunkte ist die | |
Stärkung feministischer Arbeit. Dafür hat sie das Internationale Netzwerk | |
Ma(g)dalena gegründet, in dem sich feministische Theatergruppen aus | |
Südamerika, Europa, Afrika und Asien organisieren. | |
Eine weitere Verschiebung sei die Fokussierung auf das Kollektiv. Bei den | |
Forumtheaterabenden stehe nicht mehr das Individuum mit seinen | |
Schwierigkeiten im Mittelpunkt. „Machismo und Rassismus sind nicht meine | |
Probleme, sondern die der Gesellschaft“, betont Santos. Die Frage laute | |
also: Was können wir als Gesellschaft ändern? | |
Auch in der Coronazeit ist viel passiert, wie sich an Veränderungen in der | |
Kultur- und Theaterszene zeigt. „Boal hätte sich niemals vorstellen können, | |
einen Workshop über Zoom zu geben“, sagt Santos und lacht. Auch sie selbst | |
hätte das vor einiger Zeit noch nicht für möglich gehalten. Nun aber ist | |
Theater wieder gemeinsam und vor Ort realisierbar. Noch drei Tage bis zur | |
Premiere. Bárbara Santos nimmt noch einen Schluck Kaffee und steht auf, die | |
Probe geht weiter. | |
Festival „Aesthetics of Solidarity“, 13. bis 18. September, Uferstudios, | |
Uferstr. 8/23, https://kuringa.de | |
11 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Inga Dreyer | |
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