# taz.de -- Widersprüche im Urlaub | |
> Es ist Corona, man verbringt die Ferien in Deutschland, die Familie kommt | |
> zusammen, man redet wieder nur beinahe miteinander – dieses Setting | |
> bildet den Hintergrund für Daniela Kriens neuen Roman, „Der Brand“ | |
Von Fokke Joel | |
Eigentlich wollten Peter und Rahel in die Bayerischen Alpen. Doch dann ruft | |
der Ferienhausbesitzer an und sagt, dass die Berghütte, die sie sich | |
ausgesucht hatten, abgebrannt sei. Kurze Zeit darauf noch ein Anruf. Ruth | |
am Apparat, eine alte Freundin von Rahels früh verstorbener Mutter. Victor, | |
ihr Mann, habe einen Schlaganfall erlitten. Sie wolle ihn in die Reha an | |
die Ostsee begleiten und ob Peter und sie nicht für die drei Wochen ihr | |
Haus in der Uckermark hüten könnten. Rahel sagt zu. | |
Daniela Kriens neuer Roman, „Der Brand“, fängt mitten in der Gegenwart an. | |
Es ist die Zeit der Pandemie, in der das Dresdner Ehepaar ihren Urlaub im | |
Inland und möglichst abgelegen verbringen will. Rahel ist 49 Jahre alt und | |
betreibt eine psychotherapeutische Praxis; Peter feiert in der Uckermark | |
seinen 55. Geburtstag und unterrichtet Germanistik an der TU Dresden. | |
Außerdem sind da noch der gemeinsame Sohn Simon, der als Berufssoldat bei | |
den Gebirgsjägern arbeitet, und die verheiratete Tochter Selma, die | |
inzwischen zwei kleine Kinder hat. | |
Wie in ihrem vorigen Roman, „Die Liebe im Ernstfall“, wird der Leser | |
schnell in die Geschichte hineingezogen. Als die beiden auf dem Anwesen des | |
Bildhauers Victor und der Tänzerin Ruth ankommen, findet Rahel in Victors | |
Atelier in einer Schublade Zeichnungen von sich als Kind. Auch ihre Mutter | |
ist zu sehen, von der Rahel sagt, sie sei „eine Beinahe-Tänzerin, eine | |
Beinahe-Schauspielerin, eine Beinahe-Ehefrau und abgesehen vom unleugbaren | |
Fakt der zwei Geburten auch nur eine Beinahe-Mutter“ gewesen. Ist ihr Vater | |
vielleicht doch nicht über Nacht verschwunden, wie ihre Mutter immer | |
behauptet hat, sondern ist in Wirklichkeit Victor ihr Vater? | |
Obwohl diese Frage immer im Hintergrund als Spannungspol präsent bleibt, | |
geht es Daniela Krien letztlich nicht um deren Beantwortung. Viel wichtiger | |
ist ihr die Frage, wie es mit Rahel und Peter weitergeht. Seit einiger Zeit | |
will Peter nicht mehr mit Rahel schlafen, und sie fragt sich, was das für | |
ihre nun fast dreißig Jahre dauernde Beziehung zu bedeuten hat. Aber als | |
Peter endlich bereit ist, mit ihr zu reden, kündigt sich ihre Tochter mit | |
ihren beiden Kindern an. Selma, von der Rahel den Eindruck hat, dass sie | |
mit ihrer Unbeständigkeit in die Fußstapfen ihrer eigenen Mutter tritt und | |
ziemlich bald ankündigt, dass sie einen Liebhaber hat und nicht weiß, wie | |
es mit ihrem Mann weitergehen soll. Ein Mann, den Rahel und Peter mit | |
seiner Fürsorglichkeit und Beständigkeit als Glücksfall für ihre Tochter | |
betrachten. | |
„Widerspruch ist ein Grundmoment des menschlichen Daseins“, lautet das | |
Motto des Philosophen Ernst Cassirer, das Daniela Krien ihrem Roman | |
vorangestellt hat. Auch in diesem Buch gelingt es ihr, die Widersprüche des | |
Lebens plausibel anhand ihrer Figuren zu erzählen. Zusammen mit einem | |
intelligenten Plot macht das Kriens Prosa auch ohne große stilistische | |
Finessen lebendig und interessant. Allerdings ist die Bandbreite der | |
Widersprüche in ihrem letzten Roman, „Die Liebe im Ernstfall“, größer | |
gewesen. Das liegt wahrscheinlich an der dort gewählten Perspektive der | |
allwissenden Erzählerin und den fünf unterschiedlichen Frauenfiguren. In | |
„Der Brand“ erfährt der Leser alles aus der Perspektive von Rahel. | |
Vielleicht auch deshalb spielen die Verletzungen der Ostdeutschen nach der | |
Wende eine größere Rolle. Auf den Vorwurf von Selma an die Eltern, warum | |
nicht auch sie ein Haus auf dem Land hätten, erwidert Peter: „Weil wir | |
Ossis sind. […] Niemand hat uns gelehrt, dass man bestenfalls das Geld für | |
sich arbeiten lässt, anstatt selbst zu arbeiten. Die Grundregeln des | |
Kapitalismus, liebe Selma, die haben deine Mutter und ich viel zu spät | |
begriffen.“ Das ist zwar Figurenrede, bleibt aber unwidersprochen und | |
klingt, als lebten alle Westdeutschen von ihren Kapitaleinnahmen. | |
Auch an der verpassten Chance, den Eltern vor ihrem Tod die wichtigen | |
Fragen zu stellen, ist laut Rahel die Wende schuld: „Sie waren zu | |
beschäftigt mit dem Wechsel des Systems, dem Umlernen, dem Lernen | |
überhaupt, dem Geldverdienen, dem Kinderaufziehen, dem Reisen und | |
Westlichwerden, dem Anpassen.“ Aber war es wirklich die Wende? Schließlich | |
ist das Zu-spät für das klärende Gespräch mit den Eltern auch außerhalb | |
Ostdeutschlands ein weit verbreitetes Phänomen. | |
Weil aber Daniela Krien erzählen kann und sie ansonsten das „menschliche | |
Dasein“ überzeugend widersprüchlich schildert, lässt sich über diese | |
Stellen hinweglesen – man kann sie als eine authentische Stimme aus dem | |
Osten Deutschlands nehmen. Das gilt auch für den Untergang des Abendlandes, | |
der hin und wieder durch das Buch weht. Zum Beispiel wenn Peter, der sich | |
mehr als Rahel aus allem zurückzieht, als Lektüre Ernst Jüngers | |
Widerstandsbuch „Der Waldgänger“ sowie Pasolinis Freibeuterschriften mit in | |
den Urlaub nimmt, dessen These von der Zerstörung der Kultur durch den | |
Konsum bei Rahel und Peter Einigkeit hervorruft. | |
21 Aug 2021 | |
## AUTOREN | |
Fokke Joel | |
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