# taz.de -- Das Schweigen der Eltern | |
> In Gedenken an die Opfer des Massakers von Srebrenica zeigt die Vaganten | |
> Bühne ein neues Stück, das die Familiengeschichte eines bosnischen | |
> Flüchtlingsmädchens erzählt | |
Bild: „Fliegende Eier von Sarajewo“, Natalie Murkerjee und Senita Huskić F… | |
Von Barbara Behrendt | |
Vor dem Delphi Filmpalast hört man eine spritzige Jazzkombo über die | |
Kantstraße klingen. Nebenan hat auch die Vaganten Bühne eine | |
Open-Air-Spielstätte gebaut: Schwarze Tischchen vor der kleinen Tribüne, | |
die Serviererin nimmt Getränke-Bestellungen entgegen. Nicht die Atmosphäre, | |
in der man eine Familienrecherche rund um den Bosnienkrieg verorten würde. | |
Und doch passt der laue Abend in den Berliner Schulferien bestens zu dieser | |
Uraufführung – sie beginnt mit einem Kinderspiel, das Senna und ihre | |
Schwester Esma jeden Sommer beim Besuch der Tante in Bosnien wiederholen: | |
Am Abend, wenn die Eltern Freunde treffen, schleichen sie sich auf den | |
Balkon – und wenn niemand guckt, werfen sie Eier hinunter. Im Theater sind | |
es zum Glück nur Papierbälle, die durch die Luft ins Publikum segeln. | |
„Fliegende Eier von Sarajevo“ – so lautet der hübsche Stücktitel, der a… | |
ganz wörtlich zu nehmen ist. Jede Sommerferien sausen sie wie Wurfgeschosse | |
vom Balkon, wenn Senna und Esma ihre Cousins in Bosnien besuchen. Eine | |
24-Stunden-Höllenfahrt im Ford Mondeo ist das aus Deutschland. Jahr für | |
Jahr begleiten wir Senna auf dieser Reise von der einen Heimat in die | |
andere. Zuerst sind da die Pfannkuchen mit Nutella und der | |
Horror-Fahrstuhl, der die Siebenjährige traumatisiert, als er zwischen den | |
Stockwerken stecken bleibt. Danach dreht sich alles ums erste Verliebtsein. | |
Erst sehr viel später, Senna ist 22 und studiert, bemerkt sie die | |
Kriegsnarben und die so offensichtliche Ähnlichkeit zwischen ihrem | |
Kinderspiel und den Schüssen und Bomben der Soldaten: „Ich gehe automatisch | |
direkt auf den Balkon. Die Einschusslöcher sind überall, am Geländer, in | |
der Hausfassade, der ganze Wohnblock ist voll damit. Ich schaue nach unten | |
und sehe einen Bombenkrater im Beton. Er hat dieselbe Form wie die Eier, | |
die damals auf den Boden geprallt sind.“ | |
Die junge Dramatikerin Fabienne Dür hat in diesem Jahr bei gleich mehreren | |
Autorinnen-Wettbewerben mit sprachlich genauen und zugleich emotional | |
klugen Theaterstücken auf sich aufmerksam gemacht. Die „fliegenden Eier“ | |
sind nun in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Senita Huskić entstanden. | |
Eine gute Entscheidung, hier wie in einer Sommerserie aus Sennas | |
Perspektive erzählen zu lassen – denn aus einem erdrückenden Kriegsdrama, | |
das uns behüteten Deutschen gern weit entfernt scheint, wird so die | |
humorvolle, bewegende Coming-of-Age-Geschichte eines aufgeweckten Mädchens, | |
das sich mit seiner großen Schwester zankt – und zufällig Verwandte in | |
Bosnien hat. Erst nach und nach lernt Senna zu verstehen, wovon ihre Eltern | |
so laut schweigen. Und dass sie eben doch nicht als „echte“ Deutsche gilt, | |
wenn sie einen bosnischen Namen trägt und nicht weiß, dass man bei einer | |
Schnitzeljagd keine Schweineschnitzel aufspüren will. | |
Durch die bedrückenden Erzählungen der Mutter, die Sennas Erinnerungen | |
ergänzen, fließt ein wichtiges Stück Flucht- und Kriegsgeschichte ein. Die | |
Sorge um die Schwester in Sarajevo, die verzweifelt versucht, in die | |
„geschützte Stadt“ Srebrenica zu fliehen – und es zum Glück nicht schaf… | |
Die Sprachlosigkeit rund um die Mutter von Sennas Schulfreundin, die aus | |
dem Ort mit dem großen Vergewaltigungslager stammt. Die Ankunft von Sennas | |
Familie im Flüchtlingsheim, das Malochen der hochschwangeren Mutter bei | |
McDonald’s, bis sie zusammenbricht. Die Angst vor der Abschiebung – und die | |
teure Scheinehe mit dem Nachbarn, um ihr zu entgehen. Die Anspruchshaltung | |
der Tante, Computer nach Sarajevo geschickt zu bekommen, weil man doch | |
reich ist in Deutschland. Das Zerrissensein zwischen zwei Heimaten, die | |
beide keine sind. | |
In Deutschland waren die 1990er Jahre heile Welt. Während man „Der mit dem | |
Wolf tanzt“ guckte oder halbnackt bei der Love Parade feierte, tobte im | |
Osten Europas jener Krieg zwischen den Ethnien Jugoslawiens, der mit | |
brutalen Massakern an der zivilen Bevölkerung einherging. Zum Beispiel das | |
in Srebrenica im Juli 1995. 8.000 Bosniaken, hauptsächlich Jungen und | |
Männer, wurden dabei ermordet. Auch daran erinnert das Stück, wenn Senna im | |
Schulunterricht ein Referat über den Zerfall Jugoslawiens halten soll – und | |
plötzlich anfängt zu weinen. | |
Senita Huskićs bosnischer Hintergrund sei der Ausgangspunkt für das Stück | |
gewesen, sagt das Theater, man habe es allerdings nicht mit ihrer eigenen | |
Biografie zu tun. Doch Huskić steht als Senna auf der Bühne – und wenn ihr | |
beim Schlussapplaus die Tränen kommen, wird auch der Letzten im Publikum | |
klar, wie viel ihr diese Arbeit bedeuten muss. Zusammen mit Natalie | |
Mukherjee als Sennas Mutter und Schwester bilden die beiden ein gefühl- und | |
kraftvolles Spielerinnendoppel, das einem sehr nah kommt. | |
Fabienne Dür, die zum ersten Mal auch Regie führt, verlässt sich ganz auf | |
die Kraft der Erzählung und die ihrer Spielerinnen. Auf der Bühne nur eine | |
Wäscheleine, an die Esma und Senna ihre auf Papier gekritzelten | |
Erinnerungen hängen, als müssten sie erst noch eine Weile im Sommerwind | |
trocknen. Erinnerungen an eine junge europäische Geschichte, von der das | |
deutschsprachige Theater viel zu selten derart lebendig erzählt. | |
Wieder am 7. 8. und 8. 8. jeweils 20.30 Uhr, Vaganten Sommerbühne im Hof. | |
21 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Barbara Behrendt | |
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