# taz.de -- Das Recht, eine Utopie zu formulieren | |
> Alles kann, nichts muss: Auf ihrem neuen Album „Change“ zeigt Anika, dass | |
> Popmusik auch ohne Zynismus auskommt | |
Von Andreas Hartmann | |
Es sind Sätze wie vom Kirchentag: “Und für uns alle gibt es etwas zu | |
lernen. Über den anderen, über die Welt, über uns selbst“, singt Anika etwa | |
im titelgebenden Song “Change“ aus ihrem neuen Album. Und weiter fordert | |
sie noch dazu auf, lieber öfter mal dem anderen zuzuhören, anstatt gleich | |
wieder rumzuschreien und sich über Dinge zu äußern, von denen man überhaupt | |
keine Ahnung hat. Ja, wir kriegen das hin, verkündet Anika, wir können uns | |
verändern. | |
Das klingt schon schwer nach Erbauungslyrik, und mit etwas Pech wird die | |
Sängerin demnächst für einen Vortrag von “Change“ von Frank-Walter | |
Steinmeier in sein Präsidialamt eingeladen. | |
Andererseits ist aber gar nichts dagegen einzuwenden, wenn Popmusik auch | |
mal ohne Zynismus auskommt. Und im Video-Clip zum Song, in dem Anika glossy | |
Klamotten von Jil Sander spazieren trägt und sich als Cyber-Wesen | |
inszeniert, macht sie zudem klar, dass sie kein naiver Hippie ist, sondern | |
eine selbstbewusste Frau, die sich das Recht herausnimmt, eine Utopie zu | |
formulieren. | |
Anika, die eigentlich Annika Henderson heißt, hat bereits erklärt, in | |
welchem Kontext ihre Forderungen nach Veränderung entstanden sind. Sie ist | |
Britin, die eine Zeit lang in Bristol gelebt hat, bevor sie nach Berlin | |
gezogen ist. Sie hat das elende Gezerre um den Brexit direkt miterlebt und | |
ihren britischen Pass inzwischen abgegeben. Sie, die früher als politische | |
Korrespondentin gearbeitet hat, konnte die zunehmend nationalistische | |
Stimmung in ihrer Heimat irgendwann einfach nicht mehr ertragen. Dazu kam | |
dann noch das Elend der Trump-Ära. Sie habe sich viel mit Hannah Arendts | |
Begriff der “Banalität des Bösen“ beschäftigt in den vergangenen Jahren, | |
sagt sie, auch das sei mit eingeflossen in die Arbeit am Album. Dem Brexit- | |
und Trump-Horror und dem damit einhergehenden Populismus wollte sie nun | |
eben den Gedanken entgegensetzen, dass Veränderung immer noch möglich ist. | |
Hoffentlich hat sie recht, kann man da eigentlich nur sagen. | |
Dass das Prinzip der Veränderung auch für Anika ganz persönlich eine | |
gewisse Rolle spielt, wird schon deutlich, wenn man sich ihre Biographie | |
etwas genauer anschaut. Sie war gerade mal 23 Jahre alt, als sie mit Geoff | |
Barrow von der großen Trip-Hop-Band Portishead ihr Debütalbum aufnahm. Vor | |
ganzen elf Jahren war das. Damals nahm sie vor allem Coverversionen auf, | |
etwa Songs von Bob Dylan oder Yoko Ono, darunter Dylans explizit | |
politisches „Masters of War“. Die Platte, auf der Anikas unterkühlte, sich | |
gelegentlich dem Sprechgesang annähernde Stimme zu einem Mix aus klapprigen | |
Beats, Postpunk-Bezügen und verwaschenem Dub zu hören war, kam gut an. | |
Anika war schnell ein Indie-Star. Doch anstatt sich nun an das nächste | |
Album zu machen, gründete sie in Mexico City die Band Exploded View mit. | |
Sie begann mit dem DJ-ing und lieh ihre Gesangsstimme den Produktionen | |
anderer Künstler. Den stringenten Aufbau einer Karriere als Solomusikerin | |
stellt man sich etwas anders vor. | |
Nun ist sie beim Erscheinen ihres zweiten Albums unter eigenem Namen eine | |
Frau Mitte 30, die sich gewiss gehörig verändert hat gegenüber der | |
Anfang-Zwanzigjährigen, die damals ihre ersten musikalischen Gehversuche | |
unternommen hat. Die soundästhetischen Grundlagen im Vergleich zu damals | |
hat sie jedoch beibehalten. Beim Hören ihrer Stimme fallen einem immer noch | |
sofort Assoziationen zum Gesang Nicos ein. Und sie mag es weiterhin am | |
liebsten, wenn die Drums gehörig rumpeln, die Orgeln eiern und alles etwas | |
unfertig klingt. Nicht alles muss sich für Anika um jeden Preis ändern. | |
Anika: „Change“ (Invada Records) | |
29 Jul 2021 | |
## AUTOREN | |
Andreas Hartmann | |
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