# taz.de -- Die Vergangenheit ist nicht vergangen | |
> Das Musikvestival in Aix-en-Provence glänzt mit der Uraufführung der Oper | |
> „Innocence“ der finnischen Komponistin Kaija Saariaho | |
Bild: Die Hochzeit, bei der die Vergangenheit sichtbar wird. Szene aus „Innoc… | |
Von Joachim Lange | |
Das Musikfestival in Aix-en-Provence (das noch bis 25. Juli läuft) sieht | |
sich selbst in der Liga, in der auch Salzburg, Bayreuth oder Glyndebourne | |
(in Sussex) spielen. Daneben hat es den Charme Südfrankreichs auf seiner | |
Seite. Im vorigen Sommer im Online-Exil, jetzt wieder live. Für die | |
Zuschauer nur mit Gesundheitspass, aber ohne freie Plätze zwischen ihnen. | |
Fußballfeeling in der Hochkultur, nur mit Maske und ohne Gebrüll von den | |
Rängen. Bravi-Rufe aber gab es. Besonders für eine Uraufführung. | |
## Erfolg finnischer Künstlerinnen | |
An deren Erfolg haben finnische Frauen einen besonderen Anteil. „Innocence“ | |
(Unschuld) ist die fünfte Oper der seit ihrem Salzburger Opernerstling aus | |
dem Jahr 2000, „L’amour de loin“, weltweit geschätzten, 1952 in Helsinki | |
geborenen Komponistin [1][Kaija Saariaho]. Die Romanvorlage und das | |
Libretto zu dieser Geschichte über ein Schulmassaker stammen von deren | |
Landsfrau [2][Sofi Oksanen]. Und am Pult des hochpräzisen London Symphony | |
Orchestra stand die ebenfalls aus Finnland stammende Dirigentin [3][Susanna | |
Mälkki]. Da auch Vilma Jää in der Rolle eines der ermordeten Schulmädchen | |
mit ihren markant trompetenden Folktönen einen besonderen Akzent setzt, | |
könnte man fast von einem Festspieltriumph der Frauen (aus dem Norden) | |
sprechen. Allerdings stünde einer solchen zeitgeistigen Überschrift | |
entgegen, dass Regisseurin Lotte de Beer mit ihrem „Figaro“ für einen Flop | |
und Alleskönner Barrie Kosky mit „Falstaff“ für einen Coup des | |
Festspieljahrs in Aix sorgten. Auch [4][Simon Stone] zeigte sich als | |
Regisseur der Uraufführung von „Innocence“ in Hochform. | |
In dem modernen, wandelbaren Drehbühnenhaus von Cloe Lamford erleben wir | |
sowohl ein zehn Jahre zurückliegendes Schulmassaker als auch den gründlich | |
scheiternden Versuch der Familie des Mörders, mit einer Hochzeit die | |
Rückkehr in die Normalität zu installieren. Dass die Braut von dieser | |
Vorgeschichte nichts weiß und der Bräutigam bei der Wahnsinnstat seines | |
Bruders eigentlich mitmachen wollte, kommt erst nach und nach ans Licht. | |
Eine auf die Schnelle als Ersatz engagierte Kellnerin (grandios: Magdalena | |
Kožená) ist nämlich zufällig die Mutter eines der Opfer. | |
Geschickt vermischen sich im Libretto dabei die beiden Zeitebenen: die | |
Hochzeit von heute und das Attentat von damals. Mit atmosphärischem Dräuen | |
bleibt das Rumoren der Traumata in der Musik präsent. Staunen lässt zudem, | |
wie sich die 13 in 9 (!) Sprachen agierenden Charaktere profilieren. In | |
meist gesprochenen Passagen erinnern sich die überlebenden Schüler und eine | |
Lehrerin an jenen schlimmen Tag und berichten von den Folgen für ihr | |
weiteres Leben. | |
Natürlich ist auch für die Eltern der ermordeten Kinder nichts wirklich | |
vergangen. Der Kellnerin ist ihre getötete Tochter wie ein Geist sogar | |
physisch gegenwärtig. Erst am Ende ermutigt die ihre Mutter, sie gehen zu | |
lassen. | |
Saariahos packende Musik ist der adäquate Sound für diesen 105-minütigen | |
Opernthriller. Sie schielt nicht auf die Extravaganz des Neuen um jeden | |
Preis, sondern setzt (mit Recht) auf ein Nachleben des Werkes auf den | |
Opernbühnen der Welt. Nach diesem Bilderbuchstart hat „Innocence“ dafür d… | |
besten Chancen! | |
12 Jul 2021 | |
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## AUTOREN | |
Joachim Lange | |
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