| # taz.de -- Schritte hören, Schritte erben | |
| > Wie Bedeutung entsteht und vergeht: Das Dance On Ensemble beschäftigt | |
| > sich im Radialsystem mit Tanzklassikern von Lucinda Childs | |
| Von Katrin Bettina Müller | |
| Komplexität begreifen, dem Geflecht der Beziehungen in der Entstehung | |
| zusehen, das Komplizierte in einfache Elemente zerlegen: Das ist keine | |
| einfache Aufgabe. In den Tänzen der amerikanischen Choreografin Lucinda | |
| Childs, die in den frühen 1970er Jahren entstanden, wird das hingegen mit | |
| einer Leichtigkeit sichtbar, die staunen lässt und Freude macht. | |
| Das Berliner Dance On Ensemble hat sich mit Childs „Works in Silence“ aus | |
| den 70ern beschäftigt, drei davon sind Teil ihres Programms „Making Dances | |
| – Dancing Replies“, die am Wochenende im Radialsystem uraufgeführt wurden. | |
| Weiß gekleidet und in Turnschuhen, die damals noch nicht üblich im Tanz | |
| waren, kommen sie mit einer Lässigkeit auf die Bühne, die mehr nach | |
| entspannter Pause denn nach der Hochleistungskunst Tanz aussieht. | |
| Ihre einfachen Bewegungen – Stehen, Gehen, Setzen, Legen, Rollen, Aufstehen | |
| – erfolgen erst simultan, dann kommen Verschiebungen hinzu im Rhythmus, in | |
| der Richtung, in der Wahl der Figur. Hüpfen, Springen und Drehen schließen | |
| sich an, Figuren aus dem Ballett, aber mit einer spielerischen Leichtigkeit | |
| wie von Kindern im Hüpfspiel ausgeführt. Vierecke und Fünfecke werden | |
| abgemessen, dazwischen Diagonalen. Auf diesen Linien bewegen sich die fünf | |
| Tänzerinnen immer schneller, die Linien kreuzen sich in der Mitte, und wie | |
| die Tänzerinnen aneinander vorbeikommen ist ein Kunstwerk der Präzision. | |
| „Works in Silence“ hat keine Musik, aber den Rhythmus der hörbaren | |
| Schritte. Die Tänzerinnen müssen sich zuhören, damit alles funktioniert. | |
| Wie sie das Queren und Kreuzen mit Glück erfüllt, überträgt sich auf die | |
| Zuschauer. Die Zeit fliegt. | |
| ## An Lawinen denken | |
| „Dance On“, beheimatet in Berlin, ist ein Ensemble für Tänzer:innen über | |
| 40, für die es in vielen Compagnien wenig Platz gibt. In „Making Dances – | |
| Dancing Replies“ tanzen sie einerseits Tanzklassiker der Moderne und | |
| Postmoderne – neben Childs auch von Merce Cunningham (am zweiten Abend) und | |
| Martha Graham – andererseits neue Bearbeitungen dieses Materials. So waren | |
| Elemente von Childs‘ Bewegungsabläufen und ihrem Umgang mit den Richtungen | |
| ebenso wie mit der Konstitution des Raums in der Bewegung wiederzufinden in | |
| „Marmo“, einem Stück des jungen italienischen Choreografen-Duos Ginevra | |
| Panzetti/Enrico Ticconi. Doch „Marmo“ setzte das Material in einen ganz | |
| anderen Kontext von beunruhigender Spannung. | |
| Das begann mit einer Geräuschkulisse, wie Rieseln von Kies und Rutschen von | |
| Steinen, man konnte an Abrissarbeiten oder Lawinen denken. Tatsächlich | |
| stammen die Töne aus einem Marmorsteinbruch. Und wie es dort auf Kontrolle | |
| und Genauigkeit bei jeder Sprengung ankommt, fand ein Echo in den Gesten, | |
| ein Heranwinken und Anhalten der Tänzerinnen, deren Hände in Staub getaucht | |
| waren. | |
| Die Bewegungen, die bei Childs allein aus der Beziehung aufeinander | |
| entstanden waren, wirkten nun wie einem äußeren Regime unterworfen. | |
| Kreisende Arme erinnerten jetzt an das Rotieren von Rädern einer Maschine. | |
| Was zuvor ein Inbesitznehmen des Raumes gewesen war, wurde jetzt zu einem | |
| strengen Ordnungschaffen. An die Stelle der spielerischen Leichtigkeit war | |
| ein Plan gerückt, von dem abzuweichen bedrohlich schien. | |
| So öffnete „Dancing Replies“ einen spannenden Blick darauf, wie | |
| unterschiedlich Tanz gelesen werden kann, wie Material weitergereicht wird, | |
| wie Bedeutung entsteht und vergeht. | |
| 12 Jul 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA |