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# taz.de -- Zwischen Politik und Straße
> In der Galerie Wedding macht Solvej Helweg Ovesen ein internationales
> Programm – seit über einem Jahr muss sie sich die Räume mit dem Amt für
> Soziales teilen
Bild: Solvej Helweg Ovesen
Von Sabine Weier
Solvej Helweg Ovesen schaut durch die großen Fenster der Galerie Wedding
auf die geschäftige Müllerstraße. Menschen mit Einkaufstüten eilen vorbei,
manche bleiben stehen und schauen kurz hinein. Autos im Stop-and-go, aus
denen mal Techno, mal türkischer Pop erklingt. Die Fensterfront sei das
reizvolle an diesem Kunstort, sagt Ovesen, der Zugang zum Alltag, eine
Membran zwischen der Politik und der Straße. Die Räume der kommunalen
Galerie sind im Erdgeschoss des großen Klinkerblocks des Weddinger
Rathauses untergebracht. Draußen das migrantisch geprägte
Arbeiter:innenviertel. Drinnen zeitgenössische Kunst von internationalem
Rang.
Die Dänin absolvierte die kuratorische Kaderschmiede des Kunstzentrums De
Appel in Amsterdam, machte europaweit Ausstellungen und kuratierte unter
anderem den dänischen Pavillon der Biennale von Venedig. Seit 2015 leitet
Ovesen die Galerie Wedding. Im Austausch mit anderen Berliner
Kurator:innen entwirft sie hier über ein Jahr oder länger angelegte
Programme mit Ausstellungen, Performances, Konzerten und Workshops, zu
denen zumeist im Wedding ansässige und international arbeitende
Künstler:innen eingeladen sind. Ihre Herangehensweise nennt sie „deep
curating“, das beinhalte auch, sich über einen längeren Zeitraum hinweg
hier in den sozialen Kontext einzuarbeiten.
Zusammen mit Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der im Wedding die unabhängige
Galerie SAVVY Contemporary leitet, organisierte Ovesen nach ihrem Antritt
in den ersten Jahren das Programm „POW – Post-Otherness-Wedding“. Funda
Özgünaydın zeigte ein Videoselbstporträt montiert zwischen Szenen aus
Musikvideos türkischer Popikonen und Rainer Werner Fassbinder-Filmen. Emeka
Ogboh braute in Zusammenarbeit mit der Weddinger Brauerei Vagabund ein
Bier, das Geschmacks- und Geruchserinnerungen afrikanischer
Migrant:innen aufgriff. [1][Stine Marie Jacobsen] richtete zusammen mit
dem Verein für Straßensozialarbeit Gangway Workshops aus, in denen Expats,
Zugewanderte und Geflüchtete einen gemeinsamen Sprachunterricht entwarfen.
Der Wedding versammelt Migrationserfahrungen, die kaum miteinander
vergleichbar sind: Da ist zum Beispiel die afrikanische Community, da sind
türkisch- und kurdischstämmige Weddinger und viele aus den
unterschiedlichsten Herkunftsregionen geflohene Menschen, und da sind die
Expats – wie Ovesen, die 2009 nach Berlin zog, – und Künstler:innen, die
sich angezogen von bezahlbaren Mieten und dem Melting-Pot-Gefühl hier
niedergelassen haben. Eine davon ist die Australierin Emily Hunt, deren
Ausstellung „Job Center. Aufgeladene Orte. Psychic Places“ gerade in der
Galerie Wedding zu sehen war.
Auf einem eigens dafür entworfenen Display zeigte Hunt im Galeriefenster
bunte, surreal anmutende Keramikfiguren: Szenen aus dem Kiezleben im
Lockdown. Dazu illustrierte sie eine subjektive, von kurzen Texten
begleitete Karte, auf der sie Weddinger Orte vorstellte, wie die
berüchtigte Kneipe Zum Magendoktor am Nettelbeckplatz, und bei
Spaziergängen gesammelte Eindrücke zitierte, etwa ein Graffito, das auf
einem ausrangierten Möbelstück in der Badstraße mahnte, mit einer sauberen
Straße stiegen die Mieten. In der Mitte prangt groß eine psychedelische
Interpretation des Jobcenters, das sich in einem Hochhaus gleich neben dem
Rathaus befindet. Ins Deutsche und Türkische übersetzt lag die Karte zum
Mitnehmen aus und war schnell vergriffen.
Dass Hunts Ausstellung im Fenster stattfand, war eine Notlösung. [2][In der
Pandemie entschied das Amt für Soziales kurzerhand, im größeren der beiden
Galerieräume Arbeitsplätze einzurichten]. Bis 11.30 Uhr ist hier nun seit
über einem Jahr Sprechstunde für Fälle von Mittellosigkeit und Wohnungsnot,
danach Galeriebetrieb. „Eines Tages standen hier plötzlich Tische mit
Plexiglasscheiben“, erzählt Ovesen. Die Übernahme sei zwar angeblich
temporär, aber die Kommunikation mit dem und im Bezirksamt sei schwierig
und das Ausstellungsmachen für Ovesen und ihr Team so kaum möglich.
Ovesen sitzt im kleineren der beiden Räume, den das Amt nicht besetzt hat.
Gerade ist hier eine Bibliothek eingerichtet: Klassiker der
Performance-Theorie treffen auf Bücher des Schwarzen Feminismus, Sylvia
Wynter auf Judith Butler, Bücher über ökologische Bewegungen auf Weddinger
Geschichte. Das [3][gemeinsam mit der Choreografin Isabel Lewis
eingerichtete „Movement Research Center“] lädt Besucher:innen bis Ende
2021 zur Recherche ein. Mit Lewis arbeitete Ovesen schon für das dänische
Roskilde Festival zusammen, wo sie eine Bühne für multidisziplinäre
Performance und Musik kuratierte.
Das Jahresprogramm bespielt diesen Sommer erstmals auch den geschäftigen
Rathausvorplatz. Im Juni zeigte die Choreografin Gloria Höckner „Piazza
Paradiso – Rave New World“ mit Tanzperformances, die HipHop oder die
während der Pandemie vermisste Clubkultur zitierten. „Das Stück untersucht
auch jene Formen des Zusammenseins, die sich hier während der Pandemie
verfestigt haben, wie Social Distancing oder Schlangenbildung vor dem
Coronatestcenter, dem Amt für Soziales oder dem Jobcenter“, sagt Ovesen.
„Bewegung“ begreife das Programm breit von Tanz bis zur Demo, von der
körperlichen bis zur sozialen Bewegung. „Die Weddinger demonstrieren hier
immer wieder gegen den Verlust von Wohnraum, sammelten Unterschriften gegen
die Schließung von Karstadt in der Müllerstraße oder gingen in Gedenken an
die Opfer der rassistischen Morde in Hanau auf die Straße. Es zeigt sich
ein gewisser sozialer Kollaps, aber auch eine Neuordnung. Uns interessiert,
welche Formate Künstler:innen in diesem Zusammenhang finden.“
Über einen Open Call können sich Choreograf:innen aus dem Wedding und
der ganzen Stadt melden: Im August wird dann der Rathausvorplatz mit ihren
Stücken bespielt. Wegen der Bedrohung der Galerie selbst, die sich die
Räume mit dem Amt für Soziales teilen muss, habe es noch keine Demo
gegeben, bedauert Ovesen. Doch sie gibt sich kämpferisch: „Keine andere
kommunale Galerie in Berlin fördert das lokale Engagement international
bedeutsamer Künstler:innen so sehr wie wir. Wir machen weiter, egal was
kommt.“
23 Jun 2021
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## AUTOREN
Sabine Weier
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