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# taz.de -- Blutregen und Kinderreime
> Ein Sprachspieler lässt Entgrenzungserfahrungen aufflackern: Arne
> Rautenberg schreibt in seinem Band „betrunkene wälder“ neue,
> postapokalyptische Gedichte
Von Michael Braun
Vor genau 150 Jahren begann die poetische Moderne mit der Erfindung eines
instabilen Wasserfahrzeugs: Arthur Rimbaud schickte 1871 sein „trunkenes
Schiff“, das „bateau ivre“, auf eine fantastische Reise. Zunächst treibt
dieses Schiff nur langsam einen Fluss hinunter, dann löst sich alles Feste
auf und in Träumen und Delirien nimmt es schließlich Kurs auf einen
vogellosen Himmel, hin zu den „Sternenarchipelen“.
150 Jahre später können wir wesentlich erdnäher einen anderen
Auflösungsvorgang beobachten: die Entstehung der „betrunkenen Wälder“.
[1][In der Arktis beginnt der Permafrostboden zu schmelzen], auf dem
aufgeweichten Boden finden die Bäume keinen Halt mehr, und so bilden sich
chaotisch verzerrte, gesplitterte und bizarr nach allen Richtungen sich
spreizende Bäume auf einer Rutschmasse, die einst der feste Boden war.
Der Dichter Arne Rautenberg, der wegen seiner dadaistischen Neigungen gerne
auch „Arne Schwittersberg“ genannt wird, ist der Chronist und die poetische
Stimme der „betrunkenen wälder“. Und auch in seiner Bildwelt sind – wie …
Rimbaud – der innere Rauschzustand, der Traum und die halluzinatorische
Fantasie entscheidende Antriebskräfte bei der poetischen Vermessung der
Welt.
„Und manchmal sah mein Auge, was Menschenauge träumt“: So lautet eine
Verszeile bei Rimbaud in der Übersetzung von Paul Celan. Und auch bei dem
Wortkünstler Rautenberg, der meist recht voreilig auf die Rolle des
heiteren Sprachspielers reduziert wird, spricht in den neuen Gedichten
diesmal ein von Untergangs- und Auflösungserfahrungen affiziertes Ich – ein
Ich, das sehen kann, was das „Menschenauge träumt“.
Und was sieht und träumt das Menschenauge in Arne Rautenbergs „betrunkenen
Wäldern“? Es sieht den Blutregen, der vom Himmel fällt im Gefolge des
Saharastaubs: „im himmel zieht von süden her / saharastaub mit ein und
blutregen fällt über / uns hernieder mit schlanken silhouetten“. Ja, „aus
allen himmeln“ stürzt es hier hernieder in die Menschenwelt, und es bündeln
sich die Menetekel – wie in jenem Gedicht Arne Rautenbergs, in dem es wie
in der apokalyptischen Szene des hypnotischen Spielfilms „Magnolia“ Frösche
vom Himmel regnet.
Und schließlich sind es die „rußgefärbten vögel“ mit schwarz eingefärb…
Gefieder, die zu Wappentieren einer Dystopie werden: „wie eine ohrenlerche
im gleitflug vor der depression / die weiße unterseite grau ja fast schwarz
eingefärbt / man wird die rußmenge später im gefieder messen indem / man
das licht fotografiert das von den federn reflektiert“.
In den „betrunkenen wäldern“ von Arne Rautenberg finden wir Blicke auf eine
Zeit der Verheerung, auf eine postapokalyptische Zeit „nach dem fünften
sechsten Weltkrieg“, wie es im „ausblick für rußgefärbte vögel“ heiß…
Verse, die er schreibt, sind selbst erfasst von diesen Auflösungsprozessen
der Naturgeschichte. Es sind zum Teil Verse, die in Form visueller Poeme
ihren Gegenständen einen bizarren Umriss geben. Oder auch erzählende Verse,
die dann in den Sog von Entgrenzungsfantasien geraten.
Die Auseinandersetzung mit metaphysischen Stoffen und den letzten Dingen
kann sich dabei auch des Kinderreims bedienen. Zum Beispiel im Gedicht mit
dem lapidaren Titel „nö“: „herrgott ich berichte / eine lustige geschich…
/ eines tages wirklich wahr / war ich überhaupt nicht da / alle fragten
sich wo ist / dieser daueroptimist / ich war einfach / weg vom fenster“.
Es lohnt sich, diesen Dichter ans Fenster zurückzuholen und mit seinem
„Menschenauge“ [2][unseren gefährdeten Planeten] neu anzuschauen.
Arne Rautenberg: „betrunkene wälder“. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg
2021, 112 Seiten, 20 Euro
9 Jun 2021
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## AUTOREN
Michael Braun
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