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# taz.de -- berlin viral: Da stimmt doch was nicht mit mir
Die letzte Kolumne, die ich hier schrieb, ist sieben Wochen alt. Wenn ich
sie heute lese, kommt es mir vor, als hätte sich die Welt seitdem mehrfach
gehäutet. Krass, wie wir uns andauernd neu justieren und anpassen müssen,
zu welcher Flexibilität wir Menschen offenbar imstande sind. Obwohl wir
Federn lassen. Apropos: Bitte unterschreiben Sie die Petition für die
Zulassung von mehr Psychotherapieplätzen auf change.org.
Vor sieben Wochen war gerade das Shoppen mit Test erlaubt worden. Huuu!
Heute gibt es alle zwei Meter ein lukratives Pop-up-Testzentrum, man kommt
ja kaum noch durch das werbende Schildermeer. Das Testen jagt meinen Puls
nicht mehr hoch, es passiert so nebenbei. Die Drastik lauert andernorts:
„Am Mittwoch kehren wir in den Regelunterricht zurück“, schreibt der
Schulleiter in seinem wöchentlichen „corona update“. Regelunterricht? Was
war das noch? Die Erwachsenen im Haushalt sehen sich großäugig an. Die
Kinder sind aus dem Haus, von 8 bis 16 Uhr? Wir werden zusammenbrechen. Vor
Erleichterung. Weil ein geregelter Alltag eine herrliche Einfachheit haben
wird, die wir nicht mehr gewohnt sind. Vor Stress, weil wir dann ja wieder
richtig arbeiten sollen. Was war das noch? Achtstundentag? Wissen wir jetzt
nicht, dass das Zusammensein mit den Kindern seine innigen, schönen Momente
hat, die wir uns vorher als emanzipiert Schuftende kaum erlaubt haben?
Auch ansonsten komme ich aktuell nicht mehr hinterher. Theater draußen.
Freiluftkino. Erste Open-Air-Konzerte. Museen und Ausstellungen. Essen mit
Test draußen. Oder draußen sogar schon ohne Test? Das Postfach quillt über
von enthusiasmierten Pressemitteilungen, überall legt sich die Kultur full
force ins Zeug. Aber will ich das noch, brauch ich das noch? Hab ich nicht
herausgefunden, dass ich es aushalte in der Immanenz des unplanbaren
Augenblicks, mit Gärtnern und Spielstraße, mit Ehrenamt, Puzzle, weniger
Arbeit und weniger Geld?
Ich schlucke. Guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben nicht zurück. Da
stimmt doch was nicht mit mir.
Mit denen im Görli unten stimmt hingegen alles. Sie trommeln wieder bis in
die späten Nachtstunden, sie lachen und johlen. Ich habe rein theoretisch
vollstes Verständnis. Fühle mich dabei aber selbst gehäutet, roh und nackt,
so, als müsste mir ein neues Fell wachsen.
Vielleicht wächst es schon dort, wo mir heute der rechte Oberarm weh tut.
Die Ärztin im Impfzentrum sagte es so: Es wird sich anfühlen, als hätte mir
jemand mit voller Kraft auf den Arm geboxt. So ist es. Ich werde
zurückgeboxt in die alte Normalität. Es ist so grandios wie unheimlich. Der
kleine Aufkleber im Impfpass hat etwas Konkretes, das ich nicht begreife,
nach all den Fernsehbildern. Da klebt wirklich Comirnaty. In meinem Pass.
Was habe ich für ein Glück.
Ich las, viele Wahlhelfer*innen für die Super-Wahl im September
sprängen wieder ab. Sie hatten sich offenbar nur gemeldet, um den
Berechtigungsschrieb zur priorisierten Impfung einzusacken, und stornieren
danach ihre Zusage. Die Ämter stehen vor einem Trittbrettfahrer-Problem.
Auf mich dürfen sie zählen. Ich bin brav und will was für unsere Demokratie
tun und dabei sein, wenn die Deutsche Wohnen enteignet und die nächste Frau
ins Bundeskanzlerinnenamt gewählt wird. Ich nehme mir in diesem Jahr die
Zeit dafür. Nein, ich weiß jetzt: Ich habe sie. Kirsten Riesselmann
5 Jun 2021
## AUTOREN
Kirsten Riesselmann
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