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# taz.de -- Lernen ist notwendig
> Die Frankfurter Römerberggespräche und die Coronapolitik
Von Rudolf Walther
Das Thema der diesjährigen 49. Frankfurter Römerberggespräche, die
staatliche Coronapolitik, war zu erwarten; zu befürchten war jedoch, dass
die Gespräche verlaufen wie Talk-shows – als ein Wettlauf zwischen
Ignoranten und Vertretern von Ressentiments. Den Organisatoren und dem
Moderatorenteam ist es in Kooperation mit den Gästen jedoch gelungen, einen
bloß verbalen Wettlauf zu verhindern.
Dem Schriftsteller Thomas Brussig fiel mit dem Thema, „Mehr Diktatur
wagen?“ die undankbare Rolle des Advocatus Diaboli zu angesichts des
teilweisen Versagens und der Versäumnisse der deutschen Coronapolitik. Der
Frankfurter Verfassungsrechtler Günter Frankenberg parierte die Attacke
souverän mit dem Hinweis auf die im Vergleich zur BRD rund dreimal so hohen
Todeszahlen in der weichgespülten Diktatur Viktor Orbáns in Ungarn.
Frankenberg stellte Brussigs Option für eine zeitweilige „Diktatur ohne
Terror“ als einem Regime von Experten zwei Gegenvorschläge gegenüber: eine
Regierung der praktischen Vernunft und des Augenmaßes, die sich bewusst
ist, dass das Recht nach der polizeilichen Logik der Gefahrenabwehr immer
erst spät ins Spiel kommt, nämlich erst, nachdem die Pandemie ausgebrochen
und das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist. Vernünftig im Sinne Kants
wäre ein präventiver Infektionsschutz mit Maßnahmen, die den Zugriff von
Zivilisation, Lebensgewohnheiten und Kapitalinteressen auf natürliche
Lebensräume von Flora und Fauna und damit die Übertragung von Viren von der
Tier- auf die Menschenwelt verhindern.
Demokratie ist, zitierte später der Juraprofessor Klaus Günther den
Hannoveraner Philosophen Oskar Negt, „die einzige Staatsform, die auf
Lernen beruht“. Von dieser Einsicht zehrt auch Frankenbergs zweiter
Vorschlag: „mehr Freiwilligkeit wagen“ oder die Einsicht in den „zwanglos…
Zwang des besseren Arguments“ lehren und lernen. Das bedeutet auch, dass
Ängste vor Seuchengefahren ernst genommen werden müssen, bevor sie sich zu
einem diffusen Gemisch aus neurotisierenden Befürchtungen verdichten und
über die ganze Gesellschaft ausbreiten.
Birgit Aschmann (Berlin) und der in Luzern lehrende Historiker Valentin
Groebner belegten an den historischen Beispielen der Choleraepidemie von
1831 in Preußen und der Pest in Florenz 200 Jahre zuvor, wie Staaten und
Gesellschaften mit Seuchen umgingen und frühe Beweise lieferten, wie und
warum angesichts von tödlichen Seuchen die „Stunde des Staates“ schlägt u…
welche starken politischen und sozialen Veränderungen die Katastrophen
bewirken. Die Soziologen Rudolf Stichweh (Köln) und Armin Nassehi (München)
behandelten die Coronakrise aus gesellschaftstheoretischer Sicht, wobei
Stichweh auf die erstaunliche Tatsache verwies, dass es bis heute noch
keine wissenschaftlich haltbaren Analysen über das tatsächliche
Infektionsgeschehen gibt, also Antworten auf die zentrale Frage: Wer steckt
eigentlich wen unter welchen Umständen an?
Nassehi referierte aus systemtheoretischer Sicht die beiden wichtigsten
politischen Reaktionsweisen auf Seuchen – Isolierung Infizierter und
Disziplinierung aller Infektionsgefährdeter mit Appellen an die
Eigenverantwortung sowie repressiven Maßnahmen und Sanktionen. Als große
Probleme erwiesen sich für die staatliche Coronapolitik die
Gegenwartsfixierung und der Eigensinn beziehungsweise die Trägheit von
Gesellschaften, die sich – im Unterschied zu Organisationen mit eingebauten
Steuerungsmechanismen – nicht kollektiv auf Linie bringen lassen.
In seinem eindrücklichen Schlussvortrag behandelte Klaus Günther die
Bedingungen für das „ungeheure Experiment“ (Hartmut Leppin) des freien
Redens, das heißt des Streits über Gründe anstelle von Gewaltandrohungen
bis hin zum Tod.
26 May 2021
## AUTOREN
Rudolf Walther
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