# taz.de -- heute in hamburg: „Niemand treibt gerne ab“ | |
Interview Lukas Door | |
taz: Frau Artus, ist Abtreibung ein Grundrecht? | |
Kersten Artus: Ja. | |
Rechtlich gilt der Schwangerschaftsabbruch ja noch als Straftat … | |
Schwangerschaftsabbrüche sind tatsächlich nur unter bestimmten Bedingungen | |
straffrei. Das ist im Paragraph 218 des Strafgesetzbuches verankert. | |
Paragraph 219 verbietet zudem die Bewerbung von Schwangerschaftsabbrüchen | |
und damit oft auch die Aufklärung darüber. Das ist frauenfeindlich, das ist | |
sexistisch, das ist familienfeindlich – zu dem Gesetz fallen mir viele | |
Attribute ein. Daher gehört es auch dringend reformiert. Die Paragraphen | |
gehören abgeschafft. | |
Was steckt hinter dieser Gesetzgebung? | |
Im Hintergrund steht die Kontrolle weiblich markierter Körper. 1871 | |
beschloss der deutsche Reichstag das Gesetz. Deutschland war im Januar | |
gegründet worden, im Mai wurde das Strafgesetzbuch beschlossen, inklusive | |
des Paragraphen 218. Verantwortlich für das Gesetz war zum einen | |
Bevölkerungspolitik – der Kaiser brauchte Soldaten – und zum anderen die | |
katholische Kirche. Es gab damals eine starke Zentrumspartei mit 60 | |
katholischen Abgeordneten. Entsprechend wurde der religiöse Einfluss | |
geltend gemacht. Nach wie vor beansprucht die Kirche Deutungshoheit | |
darüber, wann Leben beginnt und wann es endet. Paragraph 218 ist somit klar | |
vom Einfluss der Kirche geprägt. | |
Wenn der Paragraph so veraltet ist, warum steht er immer noch im Gesetz? | |
Trotz immensen Widerstandes gab es nie ausreichende parlamentarische | |
Mehrheiten, um den Paragraphen abzuschaffen. SPD und KPD versuchten es | |
immer wieder. Hinzu kommt, dass das Bundesverfassungsgericht dem | |
ungeborenen Leben alle Schutzrechte zuspricht. Frau und Fötus (ich sage | |
hier Frau, meine aber alle reproduktionsfähigen Personen) sind jedoch eine | |
Einheit. Die Trennung ist künstlich hergeleitet. Man hilft keinem Kind, | |
indem man den Fötus gegen die Frau ausspielt. Dahinter steckt der zynische | |
Gedanke, dass die Frau das Kind einfach gebären und dann zur Adoption | |
freigeben könnte. Dieser Ansatz ist komplett menschenfeindlich. Ein Kind | |
unfreiwillig gebären zu müssen, ist schrecklich für alle Beteiligten – das | |
Kind eingeschlossen. | |
Und die Lösung wäre eine Reform? | |
Das Problem könnte gelöst werden, wenn der Bundestag mutig genug wäre, eine | |
neue Rechtsprechung einzufordern. Wir wissen aus anderen Ländern, in denen | |
der Schwangerschaftsabbruch entkriminalisiert wurde, dass die Abbruchquoten | |
niedrig sind. Die Abtreibung wird nicht als Verhütungsmittel missbraucht | |
werden. Niemand treibt gerne ab. Das ist ein sexistisches Vorurteil. Wenn | |
sich alle so um das geborene Leben kümmern würden wie um das ungeborene, | |
dann wären wir alle einen Schritt weiter. | |
Und inwiefern hängt die Demokratie an diesem Diskurs? | |
Wenn sexuelle und reproduktive Rechte nicht gewährt sind, wird die | |
demokratische Teilhabe eingeschränkt. Es darf keine Fremdbestimmung bei der | |
Familienplanung geben. Eine selbstbestimmte Lebensweise ist unabdingbar für | |
eine funktionierende Demokratie. | |
10 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Lukas Door | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |