# taz.de -- Bleib ruhig, was du bist, Muse: gemein! | |
> In ihren neuen Gedichten findet Kerstin Hensel eine präzis aggressive, | |
> dabei verspielte, wortfinderische, genießerische Sprache von hoher | |
> subversiver Komik: „Cinderella räumt auf“ | |
Bild: Was ans Licht kommt: Engelsfigur aus dem Erzgebirge | |
Von Sabine Peters | |
Geschichte ist wörtlich verstanden etwas Geschichtetes und steht nicht ein | |
für alle Mal still: Manchmal kehrt sich das Unterste nach oben oder wird | |
nach oben befördert. Im Erzgebirge, der Herkunftsgegend von Kerstin | |
Hensel, lebten die Leute jahrhundertelang vom Bergbau. „Licht bringt sie / | |
Aus dem Lot: meine tief- / Schürfenden Väter / In ihren Abräumen / In der | |
Stunde verrückt / … Hämmern sie ihr Los / Am getakteten Horizont / …“. | |
Das konkrete Bild der orientierungslosen Bergleute bei ihrer Schwerarbeit | |
lässt sich auch abstrakt lesen: Nicht nur Bodenschätze kommen ans | |
Tageslicht; manchmal tauchen Phänomene auf, die in der Kulturgeschichte als | |
überwunden galten. Daher gibt es bis in unsere durchgetakteten und | |
digitalen Zeiten immer noch mittelalterliche Zustände. Gesellschaften und | |
Individuen verhalten sich mal schicksalsgläubig, mal pragmatisch, dann | |
wieder irrsinnig entschlossen. Man kann nicht auf einen geraden | |
Menschheitsweg durch Nacht zum Licht vertrauen. Solches Vertrauen zeigt | |
sich bei Hensel allenfalls in verrenkter Form; es ist „die zerflehteste | |
aller Hoffnungen“. | |
Kerstin Hensel wurde am 29. Mai 1961 im heutigen Chemnitz geboren. Sie | |
lernte Krankenschwester, studierte am J.-R.-Becher-Institut und lehrt seit | |
vielen Jahren Verssprache und Diktion an der Hochschule für Schauspielkunst | |
in Berlin. Ihr literarisches Werk umfasst Romane, Hörspiele, Erzählungen, | |
Essays und Lyrik. Ihre neuen Gedichte zeigen nach wie vor Neugier und | |
Offenheit – was nicht heißt, dass hier auf Haltungen verzichtet wird. | |
Hensels Lyrik ist etwa so idyllisch und harmonisch wie die Zeichnungen von | |
George Grosz. Sie weiß, in welchem Maß das Leben von Machtinteressen und | |
Ignoranz bestimmt wird: „Bei alledem bin ich / Huldunfähig / Wütig und | |
wach“. | |
Die Autorin ist sprachlich mit allen Wassern gewaschen. Auch im neuen Buch | |
finden sich intertextuelle Bezüge zu Dichtern wie Hafis oder Hölderlin. Der | |
hohe Tonfall der klassischen Ode oder die Verfahren der konkreten Poesie | |
sind ihr ebenso vertraut wie die schlichten Gestaltungen diverser | |
Heimatdichtungen, die sie einmal bündig als „Trachtenvereinslyrik“ | |
bezeichnete. Wenn sie selbst gelegentlich Mundart verwendet, dann ohne | |
Biedersinn. | |
Im „Gruß aus Konnersreuth“ hört man ein provinzielles Genöle über die | |
ortsansässige katholische Mystikerin Therese Neumann, die sich zu ihren | |
Lebzeiten offenbar von Luft ernährte: „D’Resl? / Ässn daouds niad drinken | |
daouds niad / … / Owa schdeam daouds niad / Aa wenn’s vreckt is niad.“ Der | |
mundartliche Originalton wird konfrontiert mit einem bissigen Kommentar: | |
„Die Bauersfrau treu der Gesätze / Gallebrechen und Gloria / Im Dorfe die | |
Schauung: viel darfst du / Und langlange leiden / Der Wund- und | |
Wundersüchtigen Verein / Erhebt keinen Beitrag mehr / Im Gaudium mysterium | |
das uns / Übern Mund fährt / Heute morgen und dann“. | |
Das Gedicht „Cinderella räumt auf“ wirft einen scharfen Blick auf die | |
aktuellen, teils bizarren Folgen des Versuchs, politisch korrekt zu agieren | |
und auszublenden, was Anstoß erregen könnte: „Cancel the bad witch / Forget | |
the bad fay / Hack dir die Augen aus / Bevor es die Tauben tun: die Guten | |
die Guten die Guten / Tiere im Märchen. Snugglebärchen / … / Be neatly busy | |
und was dich frommt / Bis der Reißwolf kommt.“ | |
Die märchenhafte Cinderella soll sich im 21. Jahrhundert nicht mehr mit | |
Hexen einlassen; sie soll auf den Augenschein verzichten und sich selbst | |
blenden. Es taucht zwar ein widerständiges lyrisches Ich auf und behauptet, | |
„es gilt was ich will“. Aber dieses Ich bleibt sich selbst wie der Welt | |
gegenüber skeptisch, ist instabil; am Ende wird nichts befriedet. Anstelle | |
des gefräßigen Wolfs droht nun ein profaner Papierschredder – da wird unter | |
der Hand gefragt, ob Lyrik als Mittel taugt, um die versteinerten | |
Verhältnisse zum Tanzen zu bringen, indem man ihnen die eigene Melodie | |
vorsingt. | |
Kerstin Hensel sagte einmal auf die Frage, ob ihr Welt- und Menschenbild | |
optimistisch oder pessimistisch sei, es sei realistisch. Mag sein – aber | |
ihre Gedichte bekommen Flügel durch die Kraft der Fantasie. Also wird die | |
Wirklichkeit durch satirische, groteske Überzeichnung oder durchs Umdeuten | |
und Auffalten vertrauter Bilder ins Flirren gebracht, bis kein Stein mehr | |
auf dem andern bleibt. Die präzis aggressive, dabei verspielte, | |
wortfinderische, genießerische Sprache bringt eine Komik hervor, die nichts | |
mit Stammtisch zu tun hat, sondern als Waffe und als Kunst der Verwandlung | |
taugt. „Nicht ist wie es bleibt / Der feste Gott unser Burgbann / Zinnen | |
Zugbrücken Zinsen / Abbau/ Der Kontinente zu babelnden Soden / …“ | |
Hensels neue Gedichte sind sprach- und gesellschaftskritische Höhenflüge, | |
wagemutig und wundersam. Und die Autorin weiß bei aller intellektuellen | |
Artistik, auch der Kopf ist ein Teil des Körpers. Also macht sie sich im | |
„Gruß aus Portugal“ ihren unbefangenen Reim auf die irdischen, leiblichen | |
Freuden, respektlos auch gegenüber der Muse der Dichtkunst: „… | |
Salamanderinnen seh ich / Sich im Dünenfeuer kühlen / Auf die andre Seite | |
dreh ich / Meinen Weltwirrwiderwillen // Muse mal nur Nörgelbilder! / Bleib | |
ruhig was du bist: gemein! / Denn ein Butt ein zartgegrillter / Schwimmt in | |
mir in grünem Wein / …“ | |
Die Lust, die Kerstin Hensel ganz offensichtlich beim Schreiben hat, | |
überträgt sich beim Lesen: Sinnsuche und Sinnenfreude stehen bei ihr in | |
einem produktiven Spannungsverhältnis und lassen immer noch alles zu | |
wünschen übrig. | |
26 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Sabine Peters | |
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