# taz.de -- Der Tastende | |
> Der Philosoph Dieter Henrich ist ein international bedeutender Erforscher | |
> des deutschen Idealismus. Nun liegt seine philosophische Autobiografie | |
> vor, die den Gang seines Denkens nachzeichnet | |
Bild: Dieter Henrich, 2006 frisch mit dem Maximiliansorden ausgezeichnet, Bayer… | |
Von Rudolf Walther | |
Dieter Henrich gehört mit Jürgen Habermas, Michael Theunissen und Ernst | |
Tugendhat zu jener kleinen Gruppe deutscher Philosophen, die weltweit | |
wahrgenommen und geschätzt wird, auch wenn Habermas, was die Prominenz | |
betrifft, aus der Gruppe herausragt. Henrich hat sich in den letzten fünf | |
Jahren mit Matthias Bormuth, Professor in Oldenburg, und Ulrich von Bülow | |
zu Gesprächen über sein Leben und seine Philosophie getroffen. Daraus ist | |
ein Buch zu seiner philosophischen Autobiografie entstanden. | |
Das Bemerkenswerteste an den Gesprächen ist, dass sie nicht nur den | |
Werdegang des Philosophen und seine Werke umfassen, sondern auch seinen Weg | |
zur Philosophie, sein Verhältnis zur Religion, also auch dem, was Henrich | |
„Lebensorientierung“ nennt. Diese gehört für den Philosophen zu den | |
ersten Aufgaben der Philosophie, und die Auseinandersetzung damit | |
durchzieht Henrichs Werk wie ein roter Faden. Er lehrte und forschte sein | |
Leben lang an deutschen und US-amerikanischen Universitäten, aber viele | |
seiner Werke sind alles andere als Universitätsphilosophie, die außerhalb | |
dieser Institution kaum auf Interesse stoßen. | |
Seine Schul- und Studienzeit verbrachte der 1927 geborene Henrich in | |
Marburg, wo er mit Erich Auerbach, Hannah Arendt, Karl Löwith und Hans | |
Jonas in Kontakt kam. Ganz entscheidend für die Prägung seiner | |
Lebensorientierung waren seine Kindheit und sein christliches Elternhaus. | |
Henrich war ein spätgeborenes Einzelkind. Nach einer Fehlgeburt, die seine | |
Mutter erlitten hatte, starben zwei kleine Geschwister als Babys in der | |
Grippewelle nach 1918. | |
Der junge Dieter Henrich war für das Elternpaar mehr als eine Hoffnung – | |
eine „Erlösung“, die allerdings getrübt wurde durch Krankheiten, an denen | |
der Junge litt. Die vorbehaltlose Fürsorge und Zuwendung der Eltern empfand | |
der Knabe als „Glückszustand“, der jedoch permanent gefährdet wurde durch | |
die „nihilistische Erfahrung“ in kasernenartigen Krankenhäusern, in denen | |
die Besuche der Eltern einer rigiden Kontrolle unterworfen waren. Den | |
plötzlichen Tod des Vaters mit 57 Jahren erlebte der 11-Jährige als | |
Katastrophe, aber durch die Segnung des Vaters im Sterbebett auch als | |
„letzte Bedeutungsquelle“: „Alles, was ich über die Lebensführung vorle… | |
sollte sich vor solchen Erfahrungen bewähren können.“ | |
Das Pathos des Nationalsozialismus blieb Henrich ebenso fremd wie die | |
exzentrische Bukolik Heideggers. Henrich erlebte Religiosität – auch dank | |
seiner Mutter – als „unverkürzte Wirklichkeit“, allerdings nicht als | |
kanonische Lehre, sondern als Chance zu lernen, was „die geistige Kraft | |
verständlich macht“. „Frömmigkeit“ gehörte für Henrich jedoch so weni… | |
Philosophie wie der „religiöse Kult“. Es ging ihm immer darum, „die | |
kulturelle Tatsache der Religion verstehen zu wollen“, und zwar mit den | |
Mitteln philosophischen Denkens, jenseits von „wissenschaftlicher | |
Ausnüchterung“ oder dem „Predigerton“, also „immer auf Klarheit der | |
Gedanken, Stimmigkeit und allseitiger Ausgewogenheit der Begründungen“ | |
bedacht sowie selbstverständlich auf „verstehende Durchsicht des Lebens | |
statt auf Erhebung, Erlösung oder Heilung des Individuums“. Er suchte nach | |
„tastenden Antworten, die in Erfahrungen und selbst erwogenem Wissen | |
gestützt sein müssen“. | |
Zu den prägenden Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus gehört Henrichs | |
Gespräch mit dem obersten Marbuger Jungvolk-Führer, der ihm en passant | |
Kants kategorischen Imperativ vermittelte, das heißt, sich keine beliebigen | |
„Wahrheiten“ zu eigen zu machen, „sondern nur den eigenen, selbständigen | |
Einsichten zu folgen“. | |
Henrich studierte zunächst Urgeschichte und erst danach Philosophie beim | |
Kantianer Klaus Reich und ab 1948 bei Hans-Georg Gadamer, dessen Assistent | |
er in Heidelberg wurde. 1960 wurde er nach Berlin berufen, wo er bis 1965 | |
blieb, bevor er von 1965 bis 1981 wieder nach Heidelberg zurückkehrte, das | |
Collegium Academicum leitete und Philosophie lehrte. Schon in dieser Zeit | |
kümmerte sich Henrich als Forscher um das Erbe und Vermächtnis der | |
klassischen deutschen Philosophie von Kant und Fichte bis zu Hegel, was | |
unter anderem in wichtige Aufsätze einging, die 1967 im Sammelband „Hegel | |
im Kontext“ erschienen sind und das Hegel-Bild der 70er und 80er Jahre | |
prägten. | |
Sein Ruf als Experte für europäisch-hermeneutische beziehungsweise | |
kontinentale Philosophie beförderten die Berufung Hernrichs an | |
US-amerikanische Universitäten, wo er ab 1968 lehrte und sich mit der | |
angelsächsischen analytischen Philosophie und Sprachphilosophie von | |
Bertrand Russell über Gilbert Ryle bis zu Peter Strawson, Willard Van Orman | |
Quine, Hilary Putnam, Donald Davidson und John L. Austin vertraut machte. | |
Nach der Rückkehr nach München widmete er sich wieder hauptsächlich der | |
historisch-interpretierenden Konstellationsforschung des deutschen | |
Idealismus von Kant bis Hegel und hinterließ der Forschung neben | |
Quelleneditionen rund 800 Ordner ungedrucktes Material aus seiner | |
20-jährigen Arbeit in Archiven und Bibliotheken, aber auch aus abgelegenem | |
Privatbesitz. | |
Relativ spät erst wandte sich Henrich aktuellen politischen Themen zu. 1990 | |
veröffentlichte er Überlegungen zu einer „Ethik zum nuklearen Zeitalter“ | |
und den Band „Eine Republik in Deutschland“ mit pointierten Reflexionen zu | |
Teilung und „Wiedervereinigung“, die „ein ganz großes Versprechen und ei… | |
ebensolche Aufgabe war. Wir hatten sie nicht verdient, sie ist uns | |
zugefallen.“ | |
Solche nüchternen Bestandsaufnahmen ohne klebriges nationales Pathos | |
zeichnen Henrichs Denken aus – über die „Philosophie der Subjektivität und | |
die Grundzüge des bewussten Menschenlebens sowie die Erfahrung der | |
Gegenwart des Unbedingten“, das heißt das „Begreifen der Unbegreifbarkeit�… | |
Dieter Henrich: „Ins Denken ziehen. Eine philosophische Autobiographie“. Im | |
Gespräch mit Matthias Bormuth und Ulrich von Bülow. C. H. Beck, München | |
2021, 275 Seiten, 28 Euro | |
3 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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