# taz.de -- Zwischen Himmel und Dreck | |
> Leslie Jamisons Essays erkunden die vielfältigen Welten, die in allen | |
> Menschen stecken, landen aber am Ende bei einer bewegenden, letztlich | |
> politischen Zeugenschaft ihrer selbst | |
Bild: Die New Yorker Autorin Leslie Jamison | |
Von Steffen Greiner | |
Es gibt einen Entscheidungsmoment, weit vorne, im ersten Teil „Sehnen“, in | |
einem Essay über eine Nacht am Flughafen von Houston und die | |
Zwangsgemeinschaft der unfreiwillig dort Gestrandeten. Der Essay | |
„Zwischenstopp“ ist eine dieser milden Leslie-Jamison-Beobachtungen, die | |
darauf hinauslaufen, dass „jeder Mensch, dem du begegnest, die ganz Welt in | |
sich trägt“. Freundlicher Humanismus zieht sich durch diese Sammlung | |
thematisch vielfältiger Texte. Es die zweite der US-amerikanischen Autorin | |
nach „Die Empathie-Tests“, das um die Frage kreiste, wie ein Individuum | |
seine jeweils individuellen Mitmenschen verstehen kann. | |
„Mir fällt David Foster Wallace’Abschlussrede ‚Das hier ist Wasser‘ ei… | |
die alle inspirierend finden außer denen, die sie für unglaublich banal | |
halten und es erbärmlich finden, dass alle so inspiriert davon sind“, | |
schreibt Jamison. „Ich gehöre zu denen, die inspiriert davon sind.“ | |
Die Rede des in Millennial-Kreisen legendären Autors ist tatsächlich | |
natürlich beides, banal und inspirierend, sie fordert dazu auf, der Umwelt | |
Vielschichtigkeit zuzugestehen. Man hat die Wahl. Diese Wahl haben auch die | |
Leser*innen von „Es muss schreien, es muss brennen“. Entscheidet man | |
sich für die Inspiration, ist es brillant: Die Sammlung ist eine intensive | |
Auseinandersetzung mit dem schreibenden Ich im Verhältnis zur Welt, der | |
Frage, wer wo wen anschaut, und wie das alles in Texte zu packen ist, die | |
mehr spiegeln als die Schreibenden, ohne, dass die sich aus dem Bild | |
schneiden müssen. | |
Die US-Fotografin in ärmlichen mexikanischen Hütten, die Projektionen der | |
Fans eines einzelgängerischen Wals, das ungute Feeling einer Reportagereise | |
nach Sri Lanka. Hochpolitische Fragen in einer Welt voller Ungleichheiten, | |
aber auch ein bisschen Writing für Writers. Bleibt man skeptisch, wirkt der | |
drängende Titel wie Hohn: Das Buch scheint fast herauszufallen aus der | |
Realität, in der es entstand. Es ist so wenig offensiv, dass es bisweilen | |
wirkt, als verschlösse die Autorin die Augen, um sich ihre poetische | |
Beiläufigkeit zu bewahren. | |
Vielleicht ist Leslie Jamison aber bloß die Älteste unter den jungen | |
Autorinnen. Eine, die mit einem Bein noch einer Welt angehört, der auch | |
Joan Didion und Susan Sontag angehörten, zwei Essayistinnen, mit denen sie | |
oft verglichen wird. Sie schreibt noch in deren Amerika, weil das Digitale | |
hier eine Randfigur ist. | |
Es spiegelt sich im Essay „Sim Life“ über die letzten Bewohner*innen | |
der vergessenen Plattform „Second Life“, das den digitalen Eskapismus als | |
sehr reales Symptom des körperlichen Seins begreift. Aber hauptsächlich in | |
kurzen Verweisen, in denen das Netz und seine Möglichkeiten als ein Raum | |
scheinen, der dazugehört, ohne zu prägen, wie das analoge Ich sich formt. | |
Und Trumps Tweets sind in diesem Amerika nicht einmal ein | |
Hintergrundrauschen. | |
Darin unterscheidet sich Jamison von der anderen jüngst mit Sontag und | |
Didion verglichenen US-amerikanischen Essayistin, Jia Tolentino, deren | |
„Trick Mirror. Über das inszenierte Ich“ im Frühjahr breit rezipiert wurd… | |
Die fünf Jahre, die zwischen beiden liegen, bedeuten einen generationalen | |
Bruch der Wahrnehmung von Welt und Selbst: die Selbstverständlichkeit eines | |
Lebens im Netz. Er wird in ihren fast parallel erschienenen Büchern | |
greifbar und macht beide, jeweils auf ihre Art, zu Zeuginnen einer sich | |
radikal verändernden Gegenwart. In der Tolentino, Jahrgang 1988, of color, | |
durch Unterdrückungsverhältnisse flitzt und Jamison, 1983, weiß, gerade mit | |
Beständigkeiten zu experimentieren beginnt. | |
„Bleiben“, so heißt das letzte der drei großen Kapitel. Was sich zu Beginn | |
als disparate Sammlung von halbwegs obskuren Phänomenen darstellt, die auf | |
schöne Pointen abgeklopft werden, wird zum Ende hin autobiografisch, ohne | |
aufzugehen in Bekenntnisliteratur. 2018 hat Jamison mit ihrem Buch „Die | |
Klarheit“ das offene Sprechen über die eigene Alkoholabhängigkeit mit einer | |
Kulturgeschichte des berauschten Genies verbunden. | |
Nun erzählen diese Texte die Geschichte der Jahre zwischen Sucht und Jetzt | |
trotz des Essaycharakters mit rotem Faden. Weil sich Themen und Fokus, | |
nicht aber die Erzählerin ändern: Nachdenken über die Ehrlichkeit von Las | |
Vegas als Geschichte der Begegnung mit ihrem künftigen Partner, die | |
Kulturgeschichte des Stiefmutterseins als Erzählfolie einer Beziehung, die | |
Geburt ihrer Tochter als Reflexion einer Essstörung. | |
In diesen vielschichtigen, bewegenden Texten geht der Ansatz Leslie | |
Jamisons voll auf: Die Relevanz nicht bloß im Himmel und im Dreck zu | |
finden, wie es Generationen von Autor*innen so leicht fiel, sondern in | |
der Banalität, der Gewöhnlichkeit des Lebens, der Langeweile von allem | |
dazwischen. | |
Und auch den Mut zu haben, dort zu bleiben. | |
29 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Steffen Greiner | |
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