| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Wir sind alle Griechen | |
| > Am 25. März 1821 begann auf der Peloponnes der Aufstand gegen die | |
| > Osmanen. Weltweit löste er eine Welle philhellenischer Begeisterung aus. | |
| Bild: Feuerwerk vor antiker Kulisse | |
| „Wer entsinnt sich heute noch der Begeisterung, die zwischen 1821 und 1829 | |
| allein der Name Griechenland weckte“, fragte der französische Historiker | |
| Edgar Quinet im Jahr 1857. Die Hellas-Schwärmerei war tatsächlich groß, und | |
| viele „Philhellenen“ unterstützten und finanzierten den Freiheitskampf oder | |
| engagierten sich sogar, wie der britische Dichter Lord Byron, auf | |
| griechischem Boden. | |
| Damals hatte das Osmanische Reich bereits 400 Jahre lang zu beiden Seiten | |
| der Ägäis geherrscht, hatte die griechisch-orthodoxe Bevölkerung zu | |
| Untertanen minderen Rechts und die Bauern zu Pächtern von herrschaftlichem | |
| Grundbesitz gemacht. Die Bewegung der Philhellenen speiste sich aus | |
| mehreren Motiven. Das eine war die Hoffnung, der griechische Aufstand könne | |
| den Aufbruch in ganz Europa, den die Heilige Allianz von Österreich, | |
| Russland und Preußen mit Repressionen, Verfolgungen und politischer Zensur | |
| erstickt hatte, aufs Neue entfachen. | |
| Die Siegermächte über das napoleonische Frankreich wollten nach der | |
| Schlacht von Waterloo die alte Ordnung auf dem europäischen Kontinent um | |
| jeden Preis wiederherstellen. Aus ihrer Sicht hatte die Französische | |
| Revolution zu den verheerenden Koalitionskriegen zwischen 1792 und 1815 | |
| geführt. Die 1815 geschlossene Heilige Allianz zur „Wahrung des | |
| öffentlichen Friedens“ sollte jedes Aufflammen eines revolutionären Feuers, | |
| wenn nötig durch militärisches Eingreifen, verhindern. | |
| Der Nachtwächter über dieses Nachkriegseuropa war Klemens von Metternich. | |
| Auf dem Wiener Kongress, der zwischen Oktober 1814 bis Juni 1815 tagte, | |
| setzte der österreichische Regierungschef sein Konzept des „Gleichgewichts | |
| der Großmächte“ durch, in das er auch das Osmanische Reich einbezog. Seine | |
| Religion hieß Konservatismus, und seine hervorstechende Eigenschaft war die | |
| „Unbeweglichkeit“, wie er selbst bekannte. Als ehemaliger Botschafter in | |
| Paris sah er in Frankreich „die große Fabrik der Revolutionen, die Höhle, | |
| aus der der Wind kommt, der den Tod über die Gesellschaft bringt“. | |
| ## Eine Geheimgesellschaft gab das Signal zum Aufstand | |
| Großbritannien zählte offiziell nicht zu den neuen Gendarmen Europas und | |
| vertrat, was die internationalen Beziehungen betraf, liberalere | |
| Auffassungen, solange es den eigenen imperialen Interessen nicht | |
| widersprach. Und doch unterschied sich Außenminister Lord Castlereagh kaum | |
| von den Mitgliedern der Heiligen Allianz, wenn er betonte: „Das bestehende | |
| Konzert der Mächte bildet die einzige Sicherung gegen die in jedem Staat | |
| Europas glimmenden revolutionären Funken.“ Wahre Weisheit gebiete deshalb, | |
| „die kleinen Streitigkeiten normaler Zeiten hintanzustellen, um zum Schutz | |
| der althergebrachten Grundsätze der sozialen Ordnung zusammenzustehen“. | |
| In den Jahren nach dem Wiener Kongress trafen sich die letzten Anhänger der | |
| Revolution und die in alle Winde zerstreuten französischen Ex-Sansculotten | |
| nur noch in Geheimgesellschaften und blieben politisch wirkungslos. Dann | |
| aber erwachte Griechenland! Eine andere Geheimgesellschaft, die 1814 in | |
| Odessa gegründete Filiki-Eteria, gab das Signal zum Aufstand, der am 25. | |
| März 1821 auf der Peloponnes begann und sich rasch ausbreitete. Auch im | |
| Westen Europas ergriffen viele Literaten, Künstler und Journalisten Partei | |
| für die griechische Nation. | |
| Zum Beispiel Eugène Delacroix, der das emblematische „Massaker von Chios“ | |
| malte – ein Aufschrei der Empörung über das Martyrium der Bewohner dieser | |
| ostägäischen Insel, an denen der Sultan ein Exempel statuieren wollte. | |
| Damals gab es zwei Ausstellungen mit mehr als einhundert Gemälden zum Thema | |
| Griechenland, die 30 000 Besucher anzogen. Dichter und Literaten wie | |
| Alphonse de Lamartine, Benjamin Constant und Jean-Baptiste Say griffen zur | |
| Feder, um das griechische Epos fortzuschreiben. | |
| Am Ende des Jahres 1821 konnte ein Journalist spotten: „Ich wette, dass | |
| allein die Zahl der Oden höher ist als die der bewaffneten Soldaten, die | |
| die Griechen gegen ihre grausamen Unterdrücker aufbieten können.“ Zwischen | |
| 1821 und 1830 wurden in Frankreich mehr als 400 Bücher oder Broschüren über | |
| Griechenland publiziert. | |
| ## Manch Philhellene gerierte sich wie ein Kreuzfahrer | |
| Wie lässt sich diese Begeisterung erklären? Der Dichter Percy Shelley hat | |
| das allgemeine Gefühl 1822 in der Vorrede zu seinem Versdrama „Hellas“ mit | |
| folgenden Worten beschrieben: „Wir sind alle Griechen. Unsere Gesetze, | |
| unsere Literatur, unsere Religion, unsere Kunst haben ihre Wurzeln in | |
| Griechenland.“ Wenn es Griechenland nicht gäbe, so Shelley, „wären wir al… | |
| womöglich noch Wilde und Götzenanbeter“. | |
| Die westlichen Intellektuellen empfanden eine tiefe und untilgbare Schuld | |
| gegenüber der Heimat des Perikles. Sie priesen daher weniger den Widerstand | |
| einer unterdrückten Nation als vielmehr den Glanz der antiken Zivilisation, | |
| als deren Erben sie sich verstanden. | |
| Doch damit erklärte man den Gegner zum Feind der Zivilisation, zumal wenn | |
| er Muslim ist. Viele der besonders leidenschaftlich engagierten | |
| Philhellenen, die in den Orient aufbrachen, gefielen sich darin, ein rotes | |
| Kreuz auf ihr Gewand zu nähen. Die idealistische Schwärmerei für die | |
| griechische Antike und die Verachtung für die türkischen „Barbaren“ waren | |
| zwei Seiten derselben Medaille. Chateaubriand hat diese | |
| Kreuzfahrermentalität in seinen „Notizen über Griechenland“ 1825 unverbl�… | |
| zum Ausdruck gebracht: „Wird unser Jahrhundert erleben, wie Horden von | |
| Wilden die zivilisatorische Wiedergeburt eines Volkes ersticken, das der | |
| Welt die Zivilisation geschenkt hat?“ | |
| Auch die Presse heizte die Stimmung an, wobei sie die Fakten fantasievoll | |
| ausschmückte und die von den Griechen begangenen Grausamkeiten regelmäßig | |
| verschwieg. In Europa wie in Amerika entstanden zahlreiche Hilfskomitees, | |
| die Geldspenden sammelten und humanitäre Hilfe organisierten. | |
| ## Metternich geriet in Panik | |
| Doch die Bewegung verfolgte über die humanitäre Unterstützung hinaus ein | |
| ehrgeizigeres Ziel, das aber scheiterte, wie Viktor Hugo in seinem 1827 | |
| verfassten Gedicht „Navarin“ beklagte: „Vergeblich bettelten wir bei | |
| unseren Königen um eine Armee.“ In der Tat wollten die Philhellenen | |
| erreichen, dass die Regierungen Europas mit ihrer militärischen Schlagkraft | |
| zugunsten der Griechen eingreifen, selbst wenn sie damit einen Konflikt mit | |
| der Hohen Pforte riskierten. | |
| Das schien anfangs völlig ausgeschlossen. Die europäischen | |
| Staatsoberhäupter wollten ja das geopolitische Gleichgewicht wahren, das | |
| sie auf dem Wiener Kongress sorgfältigst austariert hatten und das auch die | |
| Garantie der türkischen Grenzen umfasste. Zudem hätte eine Intervention | |
| womöglich zu weiteren Umstürzen ermutigt, was für Metternich eine | |
| Horrorvorstellung war. Zumal sich einige der Aufstandsführer auf das | |
| Vorbild der Französischen Revolution beriefen und von einer Republik | |
| träumten. Die Verfassung von 1789 kursierte bereits in griechischer | |
| Übersetzung. | |
| Die führenden Politiker der Heiligen Allianz hielten es für geboten, | |
| abzuwarten, auch wenn dies einigen schwerfiel, weil sie Christen ihre Hilfe | |
| versagten. Als im Januar 1822 eine griechische Delegation zum Kongress von | |
| Verona anreiste, um Hilfe vom christlichen Europa zu erbitten, wurde sie | |
| nicht einmal empfangen. Nur Großbritannien gestand den Griechen 1823 den | |
| Status einer Kriegspartei zu. | |
| Drei Jahre später scherte London endgültig aus der Front der | |
| Kontinentalmächte aus und schloss mit Russland einen Geheimvertrag, der die | |
| Gründung eines griechischen Staats auf dem Territorium des Osmanischen | |
| Reichs vorsah. Damit verfolgte England zwei Ziele: Man wollte einer | |
| einseitigen Intervention des neuen Zaren Nikolaus I. zuvorkommen, der | |
| gerade erst den russischen Thron bestiegen hatte, und darüber hinaus | |
| Österreich die Führungsrolle in Europa entreißen. | |
| ## Wie ein Bayernprinz König von Griechenland wurde | |
| Auch das restaurative Frankreich, das 1818 der Heiligen Allianz beigetreten | |
| war, schloss sich unter dem Bourbonenkönig Ludwig XVIII. der | |
| britisch-russischen Initiative an – nicht aber Preußen und Österreich. Die | |
| beiden Mächte befürchteten, das Autonomieversprechen könne am Ende zu einem | |
| unabhängigen griechischen Staat führen. In dem Fall, warnte Metternich, | |
| werde „die politische Emanzipation der Griechen den Triumph einer neuen | |
| Revolution in Europa bedeuten“. | |
| Metternich hat in einem Punkt recht behalten: Der durch das Geheimprotokoll | |
| von Sankt Petersburg ausgelöste Prozess führte nicht nur zu Spannungen in | |
| der Heiligen Allianz, sondern auch zu militärischen Auseinandersetzungen, | |
| an deren Ende die griechische Unabhängigkeit stand. Nachdem der Sultan | |
| einen Waffenstillstand abgelehnt hatte, bereitete eine | |
| englisch-französisch-russische Seemacht am 20. Oktober 1827 der osmanischen | |
| und der verbündeten ägyptischen Flotte in der Bucht von Navarino eine | |
| vernichtende Niederlage. Der anschließende Russisch-Türkische Krieg | |
| (1828–1829) endete mit der Kapitulation des Osmanischen Reichs. | |
| Aber hatte damit die Idee der philhellenischen Intellektuellen gesiegt und | |
| die von Metternich so gefürchtete „liberale Allianz“ die Oberhand gewonnen? | |
| Die Antwort lag in der Gestalt des neu geborenen Staats. Nach dem am 3. | |
| Februar 1830 von Großbritannien, Russland und Frankreich unterzeichneten | |
| Protokoll wurde das unabhängige Griechenland eine Monarchie, an deren | |
| Spitze die Signatarstaaten einen Fürsten aus einem der europäischen | |
| Herrscherhäuser setzen wollten. Nachdem Leopold von Sachsen-Coburg und | |
| Gotha die belgische der griechischen Krone vorgezogen hatte, wurde der | |
| Thron nach einigem Hin und Her dem 17-jährigen bayerischen Prinzen Otto, | |
| dem Sohn Ludwigs I., zugeschanzt. | |
| Im Februar 1833 landete Otto in Nafplio. Erst zehn Jahre später gab der | |
| junge Monarch seinem Land eine Verfassung. Der neue Staat war territorial | |
| zu klein und wirtschaftlich kaum lebensfähig. Er umfasste nur ein Drittel | |
| der Menschen, die sich damals als Griechen betrachteten. Die Beschwörung | |
| der „Zivilisation“ durch die liberalen Geister endete also mit der | |
| Niederlage des politischen Liberalismus. Ein griechisches Parlament ließ | |
| bis 1875 auf sich warten. | |
| ## Kleiner Staat, megalomaner Nationalismus | |
| Das aufgeklärte Europa, das Griechenland besungen, den Parthenon gerühmt | |
| und sich als Nachfolger von Odysseus und Achill stilisiert hatte, bekam am | |
| Ende nur einen Rumpfstaat mit absoluter Monarchie. Indigniert entgegnete | |
| der russische Botschafter in Konstantinopel auf Österreichs Vorwurf, sein | |
| Land sei zu nachgiebig, dass das Zarenreich seit 1826 nur das Ziel verfolgt | |
| habe, die Ordnung wiederherzustellen: Man habe den Skandalen und dem | |
| Blutvergießen ein Ende bereitet und zugleich die Revolution in Griechenland | |
| vernichtet – getreu der Formel, dass sich alles ändern muss, damit sich | |
| nichts ändert. | |
| So wurden die Griechen von autoritären Monarchien, die die Geburt ihres | |
| Staats verfügt hatten, um die politische Definition ihrer Vereinigung | |
| betrogen und im Moment ihrer Unabhängigkeit auf die Identität einer | |
| vermeintlich gemeinsamen ethnischen Zugehörigkeit zurückgeworfen. | |
| Diese ethnisch definierte griechische Identität trug in Verbindung mit der | |
| Enttäuschung über die territoriale Begrenztheit des neuen Staats bereits | |
| den Keim des Nationalismus in sich. In der zweiten Hälfte des 19. | |
| Jahrhunderts nahm dieser Nationalismus die Gestalt der „Megali Idea“ an: | |
| der „großen“, tatsächlich aber megalomanen Idee eines (neubyzantinischen) | |
| Reichs, das alle Griechen Europas und Kleinasiens vereint. Dieser fatalen | |
| Entwicklung haben nicht zuletzt auch die Dichter, Maler und Journalisten im | |
| Westen mit ihrer Glorifizierung eines ewigen, erträumten Griechenlands | |
| Vorschub geleistet. | |
| Aus dem Französischen von Claudia Steinitz | |
| 25 Mar 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Simon Dumoulin | |
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