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# taz.de -- berlin viral: Wenn Schulessen glücklich macht
Klar, immer noch Lockdown. Oder? Ist es nicht einfach nur normal, einzelne
Kinder zum Spielen in die Wohnung zu lassen, die Eltern beim Abholen aber
nicht? Abends draußen rumzulaufen mit der einen oder anderen Freund*in, von
Kreuzberg nach Neukölln und Friedrichshain, rund um die Halbinsel Stralau,
so lange, bis auch der wandelnde Daunenschlafsack die Kälte nicht mehr
fernhält? Oder alternativ aus einer der anderen möglichen
Freizeitbeschäftigungen zu wählen: „Coronatalkrunde im TV gucken“, „Din…
im Internet bestellen, Challenge: möglichst nicht bei Amazon“ oder „die
nächste Wohnungsumbaumaßnahme planen, um die Quadratmeterchen psychologisch
noch geschickter auf vier meistenteils zu Hause weilende Menschen
aufzuteilen“?
Ich erschrecke manchmal, aber die Erinnerungen an Konzerte, Clubs, Bars,
Restaurants, Theater, Paneldiskussionen, Partys, Esseneinladungen und
Ausstellungseröffnungen kommen mir mittlerweile derart surreal vor, dass
ich sie immer schnell wieder abschiebe uns dunkle Unbewusste.
Damit das Unbewusste nicht doch das Fingerchen hebt und die Normalität
wieder in die Dramatik kippt, wird jetzt das Positive betont: Wie viel ist
doch erträglich! Das kleine Kind geht wieder zur Schule, kurz zwar, aber
immerhin. Es ist eindeutig ausbalancierter. Die Spitzen seiner Affekte
werden abgeschmirgelt von der Kraft der halbierten Klasse. Herrlich. Das
große Kind tritt täglich wenigstens einen Gang zur Schule an, mit
Tupper-Gefäßen bewaffnet, um sich in der Mensa Mitnehm-Essen abzuholen. Wir
lieben unsere Schule für diese Möglichkeit und geben mittlerweile besonders
große Tupperdinger mit, die die großherzigen Erzieher*innen dann bis
zum Rand füllen mit Nudeln, Spinat und Käse. Oft werden davon das Kind, der
Mann und ich satt. Der Drei-Mahlzeiten-Zubereitungsstress ist Schnee von
gestern.
Und plötzlich hat die Große sogar einmal pro Woche eine Mathe- und einmal
pro Woche eine Deutschstunde! So richtig am Monitor, online, fast wie in
den westdeutschen Elite-Schulen der Cousinen, wo die Lehrer*innen vor
der Kamera den ganz normalen Stundenplan unterrichten, von morgens bis
mittags, alle Fächer, zack. Kreuzberg zieht nach, die Stoffvermittlung wird
mit Samthandschuhen wieder angefasst, es ist die reine Bildungsoffensive!
Da fangen wir vor lauter Erleichterung gleich an, Urlaubspläne zu
schmieden. Nein, nicht Urlaub, im Sinne von: erholen, abhängen, ganz ruhig
und entspannt. Bloß nicht! Eine Reise soll es werden, im klassizistischen
Goethe-Style. Eine Reise mit massig Stationen, prallvoll mit Unbekanntem,
Ungesehenem, Fremdsprachigem. Im Wohnmobil ginge es von Ort zu Ort, von
Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit, zu Kirchen, Tempeln, Museen,
Weingütern, Stränden, Leuchttürmen, Menschen, Kulturen. Leider sind die
Mobile auf dem Mietmarkt so teuer, dass wir diese Pläne, nun ja, überdenken
müssen. Überhaupt Ausland. Im Sommer. Das ist ja schon übermorgen. Hm, hm,
hm. Wir machen die Pläne normalitätskompatibler und melden uns für zwei
Wochen im Juli auf einem Bauernhof im Allgäu an. Schon das lässt unsere
Nervenenden zucken: Wie krass weit weg, wie exotisch anders! Wir werden
zurückkehren mit neuem weltfrauischem Habitus!
Die kleine Tochter rezitiert seit Monaten den „Berliner Spruch“, den Kurt
Weill ehedem vertonte: „Ick sitze hier und esse Klops. Uff eemal kloppt’s.
Ick kieke, staune, wundre mir – uff eenmal jeht se uff, die Tür. Nanu, denk
ick, ick denk: nanu! Jetzt isse uff, erst war se zu! Ick gehe raus und
kieke. Und wer steht draußen: Icke!“Im Sommer aber, da werden wir nicht
mehr nur die ewigen Wiedergängerinnen unsrer selbst vor der Tür vorfinden.
Wir werden die Türe öffnen und draußen stehen: Kühe. Und drumherum werden
die Zitronen blühn.
Kirsten Riesselmann
4 Mar 2021
## AUTOREN
Kirsten Riesselmann
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