# taz.de -- heute in hamburg: „Gedenktage sind für uns ein Lebenselixier“ | |
Interview Johanna Sethe | |
taz: Herr Arslan, welche Bedeutung haben Gedenktage für Sie? | |
Ibrahim Arslan: Gedenktage sind für die Betroffenen von rassistischer | |
Gewalt besonders wichtig, weil sie uns ermöglichen, die Ermordeten in unser | |
Bewusstsein zurückzuholen und sie so lebendig zu halten. Für uns sind diese | |
Tage ein Lebenselixier, wenn es darum geht, in dieser Gesellschaft | |
weiterhin aufrecht zu stehen. Deshalb werde ich auch morgen auf der | |
Kundgebung zum Jahrestag des Anschlags von Hanau sprechen. | |
Warum sind Sie von Hanau betroffen? | |
Ich war sieben Jahre alt, als ich einen rechtsextremistisch motivierten | |
Brandanschlag überlebt habe. Drei meiner Familienmitglieder sind dabei | |
gestorben. Ich fühle mich von Hanau betroffen, so wie ich mich auch von | |
NSU, Rostock-Lichtenhagen oder anderen rassistischen Gewalttaten betroffen | |
fühle. Es ist für mich wichtig zu zeigen, dass wir als Opfer vernetzt sind | |
und dass diese Verbrechen eine Kontinuität haben. Die Anklage meines | |
Schicksals in den Neunzigern gilt heute noch. Wir teilen das gleiche Leid. | |
Fühlen Sie sich verpflichtet, sich in der Aufklärungsarbeit zu engagieren? | |
Definitiv. Und das beziehe ich nicht nur auf mich. Ich empfinde es | |
eigentlich auch als eine Pflicht der Gesamtgesellschaft, öffentliche | |
Institutionen davon zu überzeugen, dass es Stellen gibt, die von | |
Betroffenen besetzt werden müssen. Derzeit machen wir das ja ehrenamtlich | |
und mit Hilfe von NGOs oder Initiativen, die Betroffene zu Wort kommen | |
lassen möchten. | |
Die Täter des Anschlags in Mölln sind heute wieder auf freiem Fuß. Was | |
macht das mit Ihnen? | |
Für mich bedeutet das ehrlich gesagt gar nichts, weil ich mich mit der | |
Täterperspektive und der des Justizsystems nicht auseinandersetze. Für mich | |
müsste eine gerechte Strafe völlig anders aussehen, das beginnt schon mit | |
einer lückenlosen Aufklärung. Im deutschen Justizsystem sehe ich überhaupt | |
gar keine Gerechtigkeit. | |
Hat sich je jemand bei Ihnen entschuldigt? | |
Da muss man sich natürlich die Frage stellen, von wem man eine | |
Entschuldigung oder eine Wiedergutmachung erwartet. Ich glaube, eine | |
Entschuldigung von den Tätern und Täterinnen zu erwarten, ist | |
unrealistisch. Und von der Gesamtgesellschaft und der Politik erwarte ich | |
keine Entschuldigung, sondern Konsequenzen, Gerechtigkeit und Aufklärung. | |
Was heißt das konkret? | |
Wenn wir uns die AfD und auch die Verleugnung des Holocaust angucken, dann | |
sehen wir doch, dass die Hetze gegen Menschen mit Migrationshintergrund | |
weitergeht und dass politisch motivierte Taten weiterhin organisiert werden | |
können, ohne ernsthafte Konsequenzen davonzutragen. Dementsprechend finde | |
ich, dass es definitiv Handlungsbedarf von Seiten der Politik gibt, | |
Faschismus und Rassismus in Deutschland zu bekämpfen. | |
Und von Seiten der Gesellschaft? | |
Der Gesellschaft kommen ganz viele Aufgaben zu: Sie muss sowohl die Politik | |
als auch sich selbst auffordern, endlich zu erkennen, gegen wen | |
rassistische Gewalt gerichtet ist, welche Initiativen es zu unterstützen | |
gilt, an welchen Stellen Aufklärung fehlt. Und richtig wählen natürlich. | |
Viel davon ist leider noch lange nicht erfüllt. | |
Haben Sie manchmal Angst? | |
Wovor soll ich denn Angst haben? Wenn es um die Angst vor rassistischer | |
Gewalt geht, dann kann ich nur sagen: Das ist unsere Realität, damit sind | |
wir auf die Welt gekommen. Rassismus begegnet mir, sobald ich meine Tür | |
aufmache. Ich versuche, diesen Alltag zu verändern, indem ich meine | |
Geschichte erzähle, und auch andere Betroffene dazu empowere, das zu tun. | |
Was ist mit Wut? Sind Sie wütend? | |
Ja. Ich bin wütend, weil ich weiß, dass sich jeder Anschlag rechter Gewalt | |
wiederholen kann. Gerade das hat Hanau ja gezeigt. Ich bin wütend, weil ich | |
mich frage, wann Deutschland aus seiner Vergangenheit lernen will. | |
19 Feb 2021 | |
## AUTOREN | |
Johanna Sethe | |
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