# taz.de -- „Wäre der Traum berechenbar, wäre er kein Kunstwerk“ | |
> Ein Drittel unseres Lebens verbringen wir schlafend, einen Teil davon | |
> träumen wir. Doch was passiert eigentlich in der Zeit, an die wir uns am | |
> nächsten Tag kaum erinnern können? Die Psychologin Brigitte Holzinger | |
> über das große Rätsel der Träume | |
Interview Stella Schalamon | |
taz am wochenende: Frau Holzinger, Sie haben in einer Studie | |
herausgefunden, dass die meisten Menschen während des Corona-Lockdowns sehr | |
gut geschlafen und sehr viel geträumt haben. Was sagt das über unser | |
Träumen aus? | |
Brigitte Holzinger: Das war eine große Überraschung und zeigt, dass wir uns | |
eigentlich in einer schlaf- und traumdeprimierten Lebenssituation befinden. | |
Und es nicht einmal bemerken. Dabei sind es Schlaf und Traum, die unser | |
ständiges Tunkönnen aufrechterhalten. Traumforscher, Neurophysiologen | |
genauso wie Psychoanalytiker, gehen davon aus, dass das, was man am Tag | |
sinnlich erlebt hat, den Traum anstößt und darin verarbeitet wird. Alles, | |
was wir am Vortag gesehen, gerochen und gefühlt haben, muss in unseren | |
Erfahrungsschatz integriert werden. Träume helfen uns dabei, wenn sie | |
diesen Vorgang nicht sogar hauptsächlich bewirken. Ganz genau wissen wir | |
das immer noch nicht. | |
Was genau sind Träume? | |
Gefühle, Gedanken und Atmosphären in bewegten Bildern. Ich spreche | |
absichtlich nicht von inneren Filmen, weil ich finde, dass Träume eher | |
Tableaus sind, bewegte Gemälde, Szenen. Wenn mehrere Szenen | |
aneinandergereiht sind, kann es auch mal ein ganzer Film sein. Sie sind | |
stark gefühls- und wenig wortbetont, assoziativ und nicht intellektuell. | |
Man muss sich auch von dem Gedanken verabschieden, dass ein Traum eins zu | |
eins so oder so funktioniert: Der Traum ist wie ein Kunstwerk. Wäre er | |
berechenbar, wäre er kein Kunstwerk mehr. | |
Wann träumen wir? | |
Die Schlafforschung hat verschiedene Schlafstadien beobachtet: | |
Einschlafstadium, Übergangsstadium, Tiefschlaf und REM-Schlaf. Das Ganze | |
läuft in Zyklen von etwa 90 Minuten ab. Allgemein gehen wir in der | |
Schlafforschung davon aus, dass der REM-Schlaf, in dem sich unsere Augen | |
ganz schnell bewegen, der Traumschlaf ist. In dieser Phase ist das Hirn | |
hochaktiv und von der Hirnaktivität im Wachzustand nicht unterscheidbar. | |
Die Muskeln aber sind wie gelähmt. Das heißt, man ist voll involviert in | |
das, was im Kopf passiert, aber man rennt nicht durch die Gegend. Wir | |
können jedoch nicht ausschließen, dass wir auch in anderen Schlafstadien | |
träumen. | |
Warum? | |
Auf eine Art träumen wir auch beim Einschlafen. Man nennt das hypnagoge | |
Bilder, Einschlafbilder. Wir hören deutlicher, nehmen uns selbst kleiner | |
oder größer wahr, es entwickeln sich schemenhafte Bilder, die man | |
eigentlich schon als Traum bezeichnen könnte. Ich denke ja, dass wir | |
dauernd von den inneren Bildern umgeben sind, aber je nach Wachheitsgrad | |
mehr oder weniger Zugang zu ihnen haben. Wenn wir uns entspannen, in einen | |
Tagtraum gleiten, meditieren oder eine sogenannte Traumreise machen, kommen | |
bei den meisten Menschen Visualisierungen. | |
Wie viele Träume haben wir pro Nacht? | |
Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine schlüssige Antwort geben. Wenn man 8 | |
Stunden schläft und eine Schlafphase 90 Minuten dauert, dann hat man | |
vermutlich mindestens fünf REM-Schlafphasen, träumt also vermutlich fünf | |
Mal. Allerdings sind die REM-Phasen zu Beginn der Nacht kürzer und zu ihrem | |
Ende hin länger. Und auch da ist noch nicht ganz klar ist, ob wir | |
durchgängig träumen oder nur in dem Moment, in dem die Augen zucken. Der | |
dauert nämlich nur etwa 20 Sekunden, dann passiert wieder ein paar Minuten | |
gar nichts. Unser Hirn bleibt aber aktiv und die Muskeln gelähmt. | |
Kommen wir träumend auf die Welt? | |
Babys und Kleinkinder schlafen viel mehr als Erwachsene: im Durchschnitt 16 | |
Stunden, 8 Stunden davon in dem Stadium, das wir später REM nennen. Bei | |
Kindern kann man es noch nicht genau als solches erkennen und spricht | |
deshalb von aktivem Schlaf. Der wird bis zum zweiten Lebensjahr drastisch | |
weniger. Was machen wir bis dahin? Unser Gehirn bildet sich aus, wir lernen | |
mit unseren Sinnen wahrzunehmen, und das viele Träumen beschleunigt das | |
vermutlich. Vielleicht schlafen Kleinkinder deshalb auch so viel. Sie leben | |
bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Welt der Bilder. Sie müssen erst | |
den Unterschied zwischen Wachsein und Träumen lernen. Ab dem zweiten | |
Lebensjahr beginnen sie zwischen dem zu unterscheiden, was sie erlebt | |
haben, und dem, was ihnen jemand erzählt hat, was sie im Fernsehen gesehen | |
oder geträumt haben. Voll ausgebildet ist diese Fähigkeit erst ab dem | |
fünften Lebensjahr. | |
Was unterscheidet einen Albtraum von einem herkömmlichen Traum? | |
Beim Albtraum bleibt man schockartig im Gefühl, meistens der Angst, | |
stecken. Als ob das Gefühl zu stark ist, als dass es weiterbestehen kann. | |
Der Schock ist so stark, dass der Körper reagiert, obwohl dessen Muskeln im | |
REM-Schlaf wie gelähmt sind. Man wacht auf. Deshalb wird der Albtraum vor | |
allem dadurch definiert, dass er weckt. Der Albtraum versucht eine | |
bestimmte Thematik, zum Beispiel ein traumatisches Erlebnis, zu bewältigen, | |
schafft es aber nicht. | |
Unsere Träume wollen uns also etwas mitteilen? | |
Vielleicht sogar etwas bewirken. Ich denke, dass der Traum schon macht, was | |
er soll, ohne dass wir es unbedingt merken. Ich glaube sogar, dass er | |
teilweise ein körperlicher Akt ist, er ist eigentlich eine innere Bewegung, | |
er bewegt etwas in uns. Daher sage ich über den Traum manchmal, dass er | |
eine kleine Psychotherapie ist, die wir uns jede Nacht selbst angedeihen | |
lassen. Und wenn wir uns das bewusst machen, können wir das beschleunigen | |
oder verstärken. | |
Indem wir versuchen, unsere Träume zu deuten? | |
Da ist genau der Fehler. Ich weiß, alle wollen das. Aber es geht darum, | |
dass wir uns mit den Träumen beschäftigen, ihnen nachspüren und nicht | |
unbedingt ihre Rätsel lösen. Irgendwann wird schon klar werden, warum man | |
träumt, was man träumt. Durchs Spüren. Nicht durchs Nachdenken. Es ist | |
unglaublich, was sich daraus entwickeln kann, aber ich kann nicht sagen, ob | |
es der Sinn des Träumens ist. | |
Wie spüre ich meinen Träumen am besten nach? | |
Ein Traumtagebuch hilft, sich sinnlich an den Traum zu erinnern. Es ist | |
auch die Grundlage für das luzide Träumen, das seinerseits hilft, sich | |
besser an die Träume zu erinnern. Beim luziden Träumen ist involviert, was | |
im Traum eigentlich ausgeschaltet ist: der Intellekt. Ich bemerke, dass ich | |
träume. Das luzide Träumen hilft deshalb großartig bei der | |
Albtraumbewältigung. Man darf die Angst im Traum aber nicht mit Gewalt | |
bekämpfen wollen, etwa als Spinnenphobiker die Spinne im Traum | |
zerquetschen. Wir wissen nicht, was das bewirkt, weil es ein inneres Bild | |
von einem selbst ist, von der eigenen Psyche. Deshalb gehört so etwas | |
begleitet von einer Psychotherapie. | |
Das heißt, ein bisschen Intellekt im gefühlsbetonten Traum kann am Ende | |
doch nicht schaden? | |
Das bewusste Eintauchen in die Gefühle ist eine große Bereicherung! Für die | |
Funktion des Traums ist es nicht wichtig, sich an ihn zu erinnern. Viele | |
Menschen möchten sich aber durch das bewusste Erinnern an den Traum | |
Inspirationen holen. Oder sich dadurch persönlich entwickeln. Ich glaube | |
aber, dass wir einfach eine ganz tiefe Sehnsucht nach den inneren Bildern | |
haben, weil die uns mit starken Gefühlen kleine innere Abenteuer bescheren. | |
Der beste Beweis für diese Annahme ist, dass sich Film und Fernsehen | |
entwickelt haben. | |
16 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Stella Schalamon | |
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