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# taz.de -- berlin viral: Grundschulkinder mit tighten Schedules
Immer mehr Menschen da draußen ziehen ihre Maske nach dem Einkaufen nicht
mehr ab. Bei uns baumeln die bunten Selbstgenähten am Haken und stauben
ein. Stolze FFP2s zu stolzen Preisen sind im Einsatz. Wir trügen sie noch
lieber, wenn Markus Söder sie nicht befehligt hätte. Jede
Nachrichtensendung ist ein Ultradowner. Die Lage türmt sich zu immer
brutalerem Ernst.
Ins Büro – Einzelzimmer, zum Glück! – gehe ich mittlerweile, um mich zu
erholen. Um für zwei Stündchen draußen zu sein aus der Wohnung, in der vier
Menschen, davon zwei unter zehn Jahren, tagein, tagaus umeinander sind. Wo
lange Vormittage des Heimschulbetriebs motiviert, moderiert, technisch
betreut, angeleitet und korrigiert werden müssen. Terminlisten.
Zwei Grundschulkinder mit tighten Schedules. Telefontermine,
Online-Meetings, Zettel, Hefte, Bücher. Wir haben zwei Laptops im Haus.
Manchmal haben die Kinder parallel Videokonferenz. Dann kann niemand von
uns Erwachsenen arbeiten. Wir stehen dann rauchend auf dem Balkon
(erwachsenes Nichtraucher-Dasein war früher) und blicken uns stumm in die
leeren Pupillen.
Es ruft von drinnen. Wieder ist ein Kind aus der Schalte geflogen. Oder das
Mikro funktioniert nicht. Aber was ist das schon? Fast ein Drittel der
Klassenkamerad*innen der Kinder taucht überhaupt nie auf bei den
Konferenzen.
Nebenher der Job als Elternvertreterin. Mails, Mails, Mails. Telefonate.
Mit besorgten Eltern, mit den Lehrer*innen, mit dem Schulleiter. Was jetzt,
Schule im Wechselbetrieb ab dem 25.? Ja, nein? Vielleicht. Was, wirklich
kein digitaler Unterricht bei der Klassenlehrerin? Nein, will sie nicht,
kann sie nicht, kriegt sie nicht hin. Was, der Musiklehrer will einen Test
durchführen? Ja, wir kriegen den Test zugemailt, drucken ihn aus, legen ihn
dem Kind vor, halten dann den ausgefüllten Zettel vor die Monitorkamera,
Screenshot. Aufruhr. Kein Drucker zu Hause, keine Zeit, neben dem
Homeoffice einen derart komplexen Prozess abzuwickeln.
Der Musiklehrer verlegt den Test in die Mensa, Präsenzmodus, unter
Einhaltung der Abstandsregeln, von der Senatsverwaltung erlaubt. Der Sturm
der Entrüstung übersteigt alles zuvor Gewesene. Dann will die
Mathelehrerin, dass das Säulendiagramm gescannt und ins Padlet gestellt
wird. Die Kinder wissen nicht, wie das geht. Hat niemand mit ihnen geübt.
Wir Eltern können das schon.
Zu guter Letzt kommt die Wochenaufgabe für den Sachunterricht. Neues Thema.
Geht raus und fotografiert Stolpersteine in eurem Kiez. Lest dazu den Text
über die NS-Zeit in Berlin. Mama, was ist deportiert? Mama, was ist
Auschwitz? Aaaaaaaaaah.
Nachmittags gehen wir raus, um unsere neue tropische Monstera pertusum
abzuholen, brav telefonisch vorbestellt und per Paypal bezahlt. Seitdem der
Weihnachtsbaum auf der Straße liegt, halte ich die leere Stelle und das
fehlende Grün im Wohnzimmer nicht mehr aus. Die Monstera ist eindrucksvoll,
wir lassen über Spotify einen Regenwald-Soundtrack laufen, die Kinder
ziehen die Stirnlampen an und gehen gleich auf Expedition. Im Tip lese ich
später, dass Zimmerpflanzen gerade ein Comeback erleben. Spießer-Image war
gestern, heute regiert der Urban Jungle. Ich bin peinlich berührt und fühle
mich als Sklavin der Episteme.
An der Ampel treffen wir eine brasilianische Bekannte. Es sprudelt nur so
aus ihr heraus. Ihre Mutter ist in Rio im Krankenhaus gestorben. An Corona.
Allein. In den letzten Wochen fehlte ihr die Kraft, ihr Handy zu halten,
und das Pflegepersonal hatte keine Zeit dafür. Sie haben also nicht mal
mehr telefoniert. Und der Mann mit seinem neuen Job im Urban-Krankenhaus.
Er wurde gleich auf die Covid-Station geschickt. Er kommt sehr spät und
erschöpft nach Hause. Sie ist den ganzen Tag mit der Tochter allein.
Hey, du 2021, du bist doch mit dem Versprechen auf Besserung angetreten!
Halt dich dran!
Kirsten Riesselmann
18 Jan 2021
## AUTOREN
Kirsten Riesselmann
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