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# taz.de -- „Es geht darum, etwas zu tun, ohne es tun zu müssen“
> Ulrich Reinhardt erforscht unsere Freizeitgestaltung gestern, heute und
> morgen. Ein Gespräch über Spontaneität in der Coronapandemie und wie sie
> sich verändert
Interview Stefanie Schweizer
taz am wochenende: Herr Reinhardt, was heißt es, spontan zu sein?
Ulrich Reinhardt: Das bedeutet, unvermittelt genau das zu tun, wozu man
gerade Lust hat. Dafür müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. Zum
Beispiel ist es nur ohne äußere Zwänge, bestehende Planungen, Rituale und
Strukturen möglich, spontan zu sein. Gerade in der Freizeit vermissen es
viele Menschen in Deutschland, spontan zu sein – auch schon vor Corona.
Denn die freie Zeit eines Menschen und dessen Spontaneität definieren sich
über die Freiwilligkeit hinter beiden Konstrukten. Es geht darum, etwas zu
tun, ohne es tun zu müssen. Unter Corona stehen aktuell aber weniger
Möglichkeiten zur Verfügung, etwas freiwillig zu tun.
Der Freizeit-Monitor 2020 untersucht das Verhalten der Menschen in
Deutschland, wenn sie frei haben. Welche Ergebnisse haben Sie überrascht?
Die vorhandene Diskrepanz zwischen Freizeitaktivitäten und
Freizeitwünschen. Auf der einen Seite dominieren die Medien unseren
Freizeitalltag – die sieben häufigsten Aktivitäten sind medialen Ursprungs.
Und da sind telefonieren, Social Media und Zeitung lesen noch nicht einmal
eingerechnet. 96 Prozent der Befragten nutzen mindestens einmal in der
Woche das Internet, 83 Prozent beschäftigen sich mit dem Computer, Laptop
oder dem Tablet. Nur 55 Prozent gaben an, sich einmal in der Woche in der
Natur aufzuhalten oder spazieren zu gehen. Auf der anderen Seite taucht bei
den Freizeitwünschen der befragten Personen keine einzige mediale Aktivität
auf, sondern nur soziale, regenerative und außerhäusliche. Wir schaffen es
demnach nicht einmal in der Freizeit, das zu tun, was wir eigentlich
wollen.
Es gib viele Möglichkeiten, spontan zu sein. Doch Corona schränkt diese
gerade ein. Was macht das mit den Menschen?
Natürlich sind viele Unternehmungen momentan nicht möglich. Aufgrund der
Verhaltensregeln und Kontaktbeschränkungen fällt es vielen Bürgerinnen und
Bürgern derzeit schwer, ein Gefühl der Unbeschwertheit, der Freiheit und
auch der Spontaneität zu empfinden. Allerdings waren spontane
Freizeitaktivitäten auch vor Ausbruch der Pandemie eine Ausnahme, wurden
die allermeisten Beschäftigungen doch fast minutiös genau geplant. Das
ergab eine unserer Untersuchungen vor knapp eineinhalb Jahren. Das Ergebnis
zeigt, dass die Menschen alle zwei Stunden einen neuen Reiz in ihrer
Freizeitgestaltung benötigen. Man trifft sich zum Beispiel mit Freunden zum
Kaffee, weiß aber, dass am Abend noch der Besuch im Kino ansteht, weshalb
das erste Treffen direkt zeitlich begrenzt ist. Das heißt, es werden in
derselben Zeit viel mehr Aktivitäten als früher durchgeführt. Das setzt
natürlich eine gewisse Planung voraus. Es ist also durchaus überraschend,
dass die Menschen aktuell die fehlende Spontaneität bemängeln.
Welche geplanten und auch spontanen Aktivitäten vermissen die Menschen im
Zuge der Pandemie besonders?
Ob Kino- oder Theaterbesuch, Essen oder abends feiern gehen: All dies
vermissen die Bundesbürgerinnen und Bundesbürger zweifellos. Die größte
Sehnsucht jedoch herrscht ganz klar nach persönlichen Treffen mit der
Familie, Freunden und Freundinnen. Gerade in gefühlt unsicheren Zeiten
hoffen die Menschen, dort Gemeinschaft, Vertrautheit, Beständigkeit und
Sicherheit erfahren zu können. Im Gegenzug sind besonders populäre
Möglichkeiten der Freizeitgestaltung unter Corona Serien und Filme schauen.
Zwei von fünf Bundesbürgerinnen und Bundesbürgern treiben zu Hause Sport,
die Hälfte erledigt aufgeschobene Dinge wie die Steuererklärung. Ebenso
boomen auch Heimwerk- und Do-it-yourself-Aktivitäten. Viele Menschen
ergreifen die Chance, etwas Neues zu erlernen. Und auch das Autokino
erfährt ein Revival. All dies findet aktuell häufiger statt als in der
Vergangenheit. Diese Tätigkeiten sind allerdings weniger spontan. Natürlich
kann man sich überlegen, welche Serie man streamt oder ob man sich den
Spielfilm oder den Krimi anschaut. Ein Gefühl von Spontaneität bleibt
allerdings häufig aus, da es beim Spontansein mehr um die Aktivität geht
als um die Ausgestaltung.
Haben spontane Aktionen eine andere Qualität als geplante Aktivitäten?
Ja, denn etwas spontan zu tun, verleiht der Handlung an sich eine andere,
ich möchte fast sagen, aufregende Qualität. Geplante Unternehmungen
hingegen stehen für Verlässlichkeit und Kontinuität. Doch weder geplante
noch spontane Aktivitäten sind besser oder wertvoller als die andere. Zudem
hängt vieles auch von der eigenen Persönlichkeit ab – manchen Menschen
gefallen feste, wiederkehrende Elemente besser; andere wiederum genießen
den Freiraum für Spontaneität. Ein wichtiges Element, um mit Spaß spontan
zu sein, bleibt immer die Freiwilligkeit. Das gilt auch für die Zeit der
Pandemie. Das Gefühl, nicht spontan sein zu können, resultiert aus der
vergleichsweise eingeschränkten Anzahl spontaner Freizeitaktivitäten. Wenn
man aus einer geringeren Menge auswählen muss, fehlt das Gefühl der
völligen Freiheit und der eigenen Entscheidung. Es geht also oftmals gar
nicht darum, was man wirklich tut, sondern eher darum, was man tun könnte.
Diese Wahl zu haben ist entscheidend und wird derzeit vermisst.
Inwiefern wird sich unser Bild von Spontaneität unter Corona langfristig
verändern?
Zunächst einmal werden wir die spontanen Aktivitäten – wie Freunde und
Freundinnen zu besuchen oder einen spontanen Ausflug zu machen – wieder
mehr wertschätzen. Langfristig wird sich unser Verhalten aber nicht
grundlegend verändern, denn Spontaneität kann überall und jederzeit
stattfinden. Es wird auch zukünftig eine Kluft zwischen Wunsch und
Wirklichkeit in der Freizeitgestaltung geben. Wie groß diese ist, hängt
letztendlich von jedem Menschen selbst ab. Die Verantwortung, etwas
ungeplant zu machen, wird – auch ohne Corona – keiner für uns übernehmen.
12 Dec 2020
## AUTOREN
Stefanie Schweizer
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