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# taz.de -- Leidenschaft in Zeiten der Pandemie: Nicht mal ein bisschen Fußball
> Warum die Bereitschaft, sich Sport anzuschauen sogar dann schwindet, wenn
> plötzlich Zeit dafür ist. Anderes ist halt wichtiger.
Bild: Yoga-Trainingseinheit bei der TSG Hoffenheim
Ich hab viel Zeit. Seit März schon. Ich hab mich weitgehend isoliert. Ich
hätte viel Zeit, Fußball zu kucken oder Tennis oder Darts. Aber ich hab
immer seltener Lust. Das [1][Spiel am Dienstag] habe ich nicht gesehen.
Offenbar habe ich was verpasst, sagt man mir. Es fühlt sich nicht so an.
Ich sehe die Meldungen aufploppen, wer sich jetzt wieder alles mit Covid-19
infiziert hat. Die halbe ukrainische Nationalmannschaft, aha. Die ganzen
Monate haben wir nicht eine'n Fußballer'in mit Maske spielen sehen. Das ist
auch nie groß diskutiert worden. Es ging immer nur darum, so zu tun, als
wäre draußen nix.
Ich höre die Phrasen. Sie meinen etwas anderes, sie sprechen über andere
Dinge. Sie sagen: Wir müssen realistisch bleiben. Sie sagen: Ich trage die
Verantwortung. Sie sagen: Vorbildfunktion. Ich lese das Interview mit İlkay
Gündoğan. Er spricht über seine Covid-Erkrankung. Er sagt, er habe das
ursprünglich nicht so ernst genommen; aber jetzt wisse er, dass das sehr
ernst zu nehmen sei. Das habe er gemerkt, vor allem, nachdem sein Vater ihn
angerufen habe und weinte. Jetzt spielt er wieder, als wäre nichts gewesen.
Ich sehe keine Profisportler'innen mit Maske. Es sei absurd, sagt man
mir, nicht praktikabel. Es gibt ganze Forschungseinrichtungen, die sich mit
der Flugbahn neu entwickelter Bälle beschäftigen; es gibt Heere von
Mediziner'innen, die Trainings- und Belastungssteuerung koordinieren, um
noch ein bisschen Leistung aus den Körpern zu pressen. Es gibt sogar
Firmen, die Masken entwickelt haben, um künstlich Atemnot zu erzeugen. Das
sei, so heißt es, ein moderner Weg, die Atemmuskulatur zu trainieren. Aber
es ist nicht möglich, Masken zu designen, die nicht verrutschen beim
Sprint. Es seien Leistungseinbußen hinzunehmen bei extremer Belastung,
heißt es.
## Yoga und die Lebenserwartung
Ich habe gelernt: Selbststrangulation ist okay. Solange es der Sache dient.
Die Sache, die zählt, sind drei Punkte am Ende. Dem ist alles
unterzuordnen.
Ich kucke Sport und mache Yoga dabei. Ich sitze viel neuerdings, und wenn
ich nicht sitze, dann liege ich. Ich mache Sport für die Rückenmuskulatur.
Ich halte mich gesund und schaue dabei Leuten zu, wie sie sich kaputt
machen. Ich lese Artikel über die Lebenserwartung von Leistungssportlern.
Die Studie heißt „Jung stirbt, wen die Götter lieben?“. [2][Lutz Thieme]
hat sie verfasst. Im Interview mit brand eins sagt er: „Jeder
Leistungssportler weiß und spürt, dass er an die Grenze dessen geht, was
man als gesund bezeichnen kann – anders kann man international auch nicht
mithalten.“
Ich will nicht international mithalten. Warum soll ich mich mit Leuten
identifizieren, die international mithalten wollen? Ich sehe den Sport da
draußen, der so verzweifelt versucht, eine Illusion von Normalität
aufrechtzuerhalten. Wie er versucht zu verdrängen. Wie er eine
Sorglosigkeit vorgaukelt, wie er den unbedingten Leistungswillen
zelebriert. Das ist kein Spiel mehr, es hat nichts Leichtes an sich. Ich
habe keine Freude daran, Menschen dabei zuzusehen, wie sie sich für mich
gefährden. Auch dann nicht, wenn sie sehr viel Geld dafür bekommen.
Vielleicht bin ich naiv. Ich hatte Zeit, nachzudenken,seit März, und bei
einer Sache bin ich mir sicher: Naiv ist besser als zynisch.
18 Nov 2020
## LINKS
[1] /Historische-Pleite-fuer-die-DFB-Elf/!5729710
[2] /Gesundheitsrisiko-Leistungssport/!5684022
## AUTOREN
Frédéric Valin
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